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Die Grenzboten. Jg. 11, 1852, I. Semester. I. Band.

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Neueste englische Literatur
Samuel Warren.

Wenn die neueste englische Literatur auf der einen Seite die Neigung hat,
sich in Faustische Gedankenlabyrinthe zu verlieren, und eine übersinnliche, phan¬
tastische Welt aufzubauen, in welcher die Kraft der Abstraction keinen Widerstand
findet, so muß man die entgegengesetzte Verirrung in das Gebiet der ideenlosen
Wirklichkeit als die nothwendige Ergänzung betrachten. Die Bailey u. s. w.
vertiefen sich in die Welt der Engel und der Sterne, die Humoristen dagegen in
den irdischen Schmuz; wenn dort-jeder Schatten, jede Grenze und daher auch
jede eigentliche Gestalt fehlt, so kommt mau hier durch die Abwesenheit des Lichts
ungefähr zu dem nämlichen Resultat. Der einzige helle Punkt ist die trübselige
Melancholie des Dichters, die über den fratzenhaften Erscheinungen der Erde wie
ein mitleidiger aber unbeteiligter Engel im Aether schwebt, und dieses ans dem
Himmel fallende Licht nimmt durch die Wolken, die es durchbrechen muß, eine
sehr düstere, unheimliche Farbe an, und kann das Reich der gemeinen Stoffe,
das es bescheint, höchstens zu einem Pandämonium verklären. Das ist der Ein¬
druck, den die sämmtlichen neueren in der Schule der deutschen Philosophie und
Shelley's gebildeten englischen Romanschreiber auf uns 'Machen, von Carlyle an
bis zu Thackeray,, Currer Bell, Kingsley, Hawthorne u. f. w. herunter. Alle
diese Dichter finden ein dämonisches Gefallen daran, jeden Schein, jede Illusion
so lange zu analysiren, bis nur der nackte, häßliche Leichnam übrig bleibt, und
sie denken nicht daran, daß wenigstens in vielen Fällen dieses scheinbare Resultat
ihrer Forschung mir ein Resultat ihrer ungeschickten, rohen Operation ist. Je
größer das Talent, welches bei dieser Thätigkeit aufgewendet wird, desto verstim¬
mender wirkt es auf uns.

Die meisten dieser Dichter haben mit, dem neuen Inhalte auch eine neue
Form eingeführt. Der schwindelnde Standpunkt, auf dem sie stehen, bringt eine
so große Mannichfaltigkeit der Gesichtspunkte und einen so schnellen Wechsel der-


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Neueste englische Literatur
Samuel Warren.

Wenn die neueste englische Literatur auf der einen Seite die Neigung hat,
sich in Faustische Gedankenlabyrinthe zu verlieren, und eine übersinnliche, phan¬
tastische Welt aufzubauen, in welcher die Kraft der Abstraction keinen Widerstand
findet, so muß man die entgegengesetzte Verirrung in das Gebiet der ideenlosen
Wirklichkeit als die nothwendige Ergänzung betrachten. Die Bailey u. s. w.
vertiefen sich in die Welt der Engel und der Sterne, die Humoristen dagegen in
den irdischen Schmuz; wenn dort-jeder Schatten, jede Grenze und daher auch
jede eigentliche Gestalt fehlt, so kommt mau hier durch die Abwesenheit des Lichts
ungefähr zu dem nämlichen Resultat. Der einzige helle Punkt ist die trübselige
Melancholie des Dichters, die über den fratzenhaften Erscheinungen der Erde wie
ein mitleidiger aber unbeteiligter Engel im Aether schwebt, und dieses ans dem
Himmel fallende Licht nimmt durch die Wolken, die es durchbrechen muß, eine
sehr düstere, unheimliche Farbe an, und kann das Reich der gemeinen Stoffe,
das es bescheint, höchstens zu einem Pandämonium verklären. Das ist der Ein¬
druck, den die sämmtlichen neueren in der Schule der deutschen Philosophie und
Shelley's gebildeten englischen Romanschreiber auf uns 'Machen, von Carlyle an
bis zu Thackeray,, Currer Bell, Kingsley, Hawthorne u. f. w. herunter. Alle
diese Dichter finden ein dämonisches Gefallen daran, jeden Schein, jede Illusion
so lange zu analysiren, bis nur der nackte, häßliche Leichnam übrig bleibt, und
sie denken nicht daran, daß wenigstens in vielen Fällen dieses scheinbare Resultat
ihrer Forschung mir ein Resultat ihrer ungeschickten, rohen Operation ist. Je
größer das Talent, welches bei dieser Thätigkeit aufgewendet wird, desto verstim¬
mender wirkt es auf uns.

Die meisten dieser Dichter haben mit, dem neuen Inhalte auch eine neue
Form eingeführt. Der schwindelnde Standpunkt, auf dem sie stehen, bringt eine
so große Mannichfaltigkeit der Gesichtspunkte und einen so schnellen Wechsel der-


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[0411] Neueste englische Literatur Samuel Warren. Wenn die neueste englische Literatur auf der einen Seite die Neigung hat, sich in Faustische Gedankenlabyrinthe zu verlieren, und eine übersinnliche, phan¬ tastische Welt aufzubauen, in welcher die Kraft der Abstraction keinen Widerstand findet, so muß man die entgegengesetzte Verirrung in das Gebiet der ideenlosen Wirklichkeit als die nothwendige Ergänzung betrachten. Die Bailey u. s. w. vertiefen sich in die Welt der Engel und der Sterne, die Humoristen dagegen in den irdischen Schmuz; wenn dort-jeder Schatten, jede Grenze und daher auch jede eigentliche Gestalt fehlt, so kommt mau hier durch die Abwesenheit des Lichts ungefähr zu dem nämlichen Resultat. Der einzige helle Punkt ist die trübselige Melancholie des Dichters, die über den fratzenhaften Erscheinungen der Erde wie ein mitleidiger aber unbeteiligter Engel im Aether schwebt, und dieses ans dem Himmel fallende Licht nimmt durch die Wolken, die es durchbrechen muß, eine sehr düstere, unheimliche Farbe an, und kann das Reich der gemeinen Stoffe, das es bescheint, höchstens zu einem Pandämonium verklären. Das ist der Ein¬ druck, den die sämmtlichen neueren in der Schule der deutschen Philosophie und Shelley's gebildeten englischen Romanschreiber auf uns 'Machen, von Carlyle an bis zu Thackeray,, Currer Bell, Kingsley, Hawthorne u. f. w. herunter. Alle diese Dichter finden ein dämonisches Gefallen daran, jeden Schein, jede Illusion so lange zu analysiren, bis nur der nackte, häßliche Leichnam übrig bleibt, und sie denken nicht daran, daß wenigstens in vielen Fällen dieses scheinbare Resultat ihrer Forschung mir ein Resultat ihrer ungeschickten, rohen Operation ist. Je größer das Talent, welches bei dieser Thätigkeit aufgewendet wird, desto verstim¬ mender wirkt es auf uns. Die meisten dieser Dichter haben mit, dem neuen Inhalte auch eine neue Form eingeführt. Der schwindelnde Standpunkt, auf dem sie stehen, bringt eine so große Mannichfaltigkeit der Gesichtspunkte und einen so schnellen Wechsel der- Grenzboten. I. -I8L2. 61

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 11, 1852, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341573_93364/411>, abgerufen am 28.04.2024.