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Die Grenzboten. Jg. 11, 1852, I. Semester. I. Band.

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Mit dem Anfange des neuen Jahres beginnen die Grenzboten den
XI. Jahrgang. Die unterzeichnete Verlagshandlung erlaubt sich zur Pränumeration
desselben einzuladen, und bemerkt, daß alle Buchhandlungen und Postämter Be¬
stellungen annehmen.
Leipzig, im Januar 1852. Fr. Lndw. Herbig.

Das Verhältnist der Dyer zu,," Drama *)

Das Verhältniß der Oper zum Drama kritisch zu untersuchen, ist in einer
doppelten Hinsicht von Interesse. Einmal muß es unser Gefühl empören, wenn
wir die vortrefflichste Musik an den unsinnigsten Text verschwendet sehen. Wenn
wir auch so viel Abstractionsvermögen besitzen, uns den letztern hinwegzu¬
denken, so ist das immer doch nur ein reflectirter und erkünstelter Genuß; vou
einem rein künstlerischen Eindruck ist keine Rede. Es wird dadurch uur zu sehr
die Neigung denkender nud geschmackvoller Künstler begünstigt, sich des Dichters
ganz zu überheben, und ihre Melodien und Harmonien rein durch sich selber tragen
zu lassen. Diese übertriebene Ausbildung der Instrumentalmusik im Verhältniß
zur Vvcalmusik in Deutschland ist keineswegs ein Zeichen von der Gesundheit
unsrer Empfindung.

Sodann beschränkt sich die üble Nachwirkung schlechter Operntexte nicht blos
aus die Oper. Wenn sich das Publicum daran gewöhnt, in der Oper den un¬
sinnigsten Sprüngen, der gedankenlosesten Entwickelung gleichmüthig zu folgen,
so bringt es bald diese Stimmung auch ins recitirende Schauspiel mit, und
duldet nicht blos von der Phantasie des Dichters die geschmacklosesten Extravaganzen,
sondern es verlangt sie, und ist unzufrieden, wenn seine überreizten Nerven nicht
durch sehr starke Gewürze gekitzelt werden. Wenn das Pariser Publicum nicht
dnrch Robert den Teufel und ähnliche Erfindungen bereits den Sinn für das
Unmögliche und Abgeschmackte ausgebildet hätte, so würde es der Muse Victor Hugo's
unmöglich geworden sein, sich Geltung zu verschaffe". Es liegt also eben so im
Interesse des Dichters, wie des Musikers, daß ein richtiges Verhältniß zwischen
dem Text und der Komposition hergestellt werde.

So viel springt in die Angen, daß die Verrücktheit des Textes kein unum¬
gängliches Erfordernis; ist, um eine gute Musik daran aufzubauen, daß im Gegen¬
theil der künstlerische Eindruck sich erhöhen muß, wenn er eben sowol ans dem
Interesse der dargestellten Handlung, als aus der begleitenden Musik hervorgeht.
Eben so klar ist aber auch, daß die Gesetze des Operntextes wesentlich verschieden



*) Oper und Drama. Von Richard Wagner. 3 Bde. Leipzig, Weber.
Grenzboten. I. 11

Mit dem Anfange des neuen Jahres beginnen die Grenzboten den
XI. Jahrgang. Die unterzeichnete Verlagshandlung erlaubt sich zur Pränumeration
desselben einzuladen, und bemerkt, daß alle Buchhandlungen und Postämter Be¬
stellungen annehmen.
Leipzig, im Januar 1852. Fr. Lndw. Herbig.

Das Verhältnist der Dyer zu,,» Drama *)

Das Verhältniß der Oper zum Drama kritisch zu untersuchen, ist in einer
doppelten Hinsicht von Interesse. Einmal muß es unser Gefühl empören, wenn
wir die vortrefflichste Musik an den unsinnigsten Text verschwendet sehen. Wenn
wir auch so viel Abstractionsvermögen besitzen, uns den letztern hinwegzu¬
denken, so ist das immer doch nur ein reflectirter und erkünstelter Genuß; vou
einem rein künstlerischen Eindruck ist keine Rede. Es wird dadurch uur zu sehr
die Neigung denkender nud geschmackvoller Künstler begünstigt, sich des Dichters
ganz zu überheben, und ihre Melodien und Harmonien rein durch sich selber tragen
zu lassen. Diese übertriebene Ausbildung der Instrumentalmusik im Verhältniß
zur Vvcalmusik in Deutschland ist keineswegs ein Zeichen von der Gesundheit
unsrer Empfindung.

Sodann beschränkt sich die üble Nachwirkung schlechter Operntexte nicht blos
aus die Oper. Wenn sich das Publicum daran gewöhnt, in der Oper den un¬
sinnigsten Sprüngen, der gedankenlosesten Entwickelung gleichmüthig zu folgen,
so bringt es bald diese Stimmung auch ins recitirende Schauspiel mit, und
duldet nicht blos von der Phantasie des Dichters die geschmacklosesten Extravaganzen,
sondern es verlangt sie, und ist unzufrieden, wenn seine überreizten Nerven nicht
durch sehr starke Gewürze gekitzelt werden. Wenn das Pariser Publicum nicht
dnrch Robert den Teufel und ähnliche Erfindungen bereits den Sinn für das
Unmögliche und Abgeschmackte ausgebildet hätte, so würde es der Muse Victor Hugo's
unmöglich geworden sein, sich Geltung zu verschaffe«. Es liegt also eben so im
Interesse des Dichters, wie des Musikers, daß ein richtiges Verhältniß zwischen
dem Text und der Komposition hergestellt werde.

So viel springt in die Angen, daß die Verrücktheit des Textes kein unum¬
gängliches Erfordernis; ist, um eine gute Musik daran aufzubauen, daß im Gegen¬
theil der künstlerische Eindruck sich erhöhen muß, wenn er eben sowol ans dem
Interesse der dargestellten Handlung, als aus der begleitenden Musik hervorgeht.
Eben so klar ist aber auch, daß die Gesetze des Operntextes wesentlich verschieden



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[0091] Mit dem Anfange des neuen Jahres beginnen die Grenzboten den XI. Jahrgang. Die unterzeichnete Verlagshandlung erlaubt sich zur Pränumeration desselben einzuladen, und bemerkt, daß alle Buchhandlungen und Postämter Be¬ stellungen annehmen. Leipzig, im Januar 1852. Fr. Lndw. Herbig. Das Verhältnist der Dyer zu,,» Drama *) Das Verhältniß der Oper zum Drama kritisch zu untersuchen, ist in einer doppelten Hinsicht von Interesse. Einmal muß es unser Gefühl empören, wenn wir die vortrefflichste Musik an den unsinnigsten Text verschwendet sehen. Wenn wir auch so viel Abstractionsvermögen besitzen, uns den letztern hinwegzu¬ denken, so ist das immer doch nur ein reflectirter und erkünstelter Genuß; vou einem rein künstlerischen Eindruck ist keine Rede. Es wird dadurch uur zu sehr die Neigung denkender nud geschmackvoller Künstler begünstigt, sich des Dichters ganz zu überheben, und ihre Melodien und Harmonien rein durch sich selber tragen zu lassen. Diese übertriebene Ausbildung der Instrumentalmusik im Verhältniß zur Vvcalmusik in Deutschland ist keineswegs ein Zeichen von der Gesundheit unsrer Empfindung. Sodann beschränkt sich die üble Nachwirkung schlechter Operntexte nicht blos aus die Oper. Wenn sich das Publicum daran gewöhnt, in der Oper den un¬ sinnigsten Sprüngen, der gedankenlosesten Entwickelung gleichmüthig zu folgen, so bringt es bald diese Stimmung auch ins recitirende Schauspiel mit, und duldet nicht blos von der Phantasie des Dichters die geschmacklosesten Extravaganzen, sondern es verlangt sie, und ist unzufrieden, wenn seine überreizten Nerven nicht durch sehr starke Gewürze gekitzelt werden. Wenn das Pariser Publicum nicht dnrch Robert den Teufel und ähnliche Erfindungen bereits den Sinn für das Unmögliche und Abgeschmackte ausgebildet hätte, so würde es der Muse Victor Hugo's unmöglich geworden sein, sich Geltung zu verschaffe«. Es liegt also eben so im Interesse des Dichters, wie des Musikers, daß ein richtiges Verhältniß zwischen dem Text und der Komposition hergestellt werde. So viel springt in die Angen, daß die Verrücktheit des Textes kein unum¬ gängliches Erfordernis; ist, um eine gute Musik daran aufzubauen, daß im Gegen¬ theil der künstlerische Eindruck sich erhöhen muß, wenn er eben sowol ans dem Interesse der dargestellten Handlung, als aus der begleitenden Musik hervorgeht. Eben so klar ist aber auch, daß die Gesetze des Operntextes wesentlich verschieden *) Oper und Drama. Von Richard Wagner. 3 Bde. Leipzig, Weber. Grenzboten. I. 11

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 11, 1852, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341573_93364/91>, abgerufen am 27.04.2024.