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Die Grenzboten. Jg. 11, 1852, I. Semester. II. Band.

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dem andern verfloß, ohne daß wir sagen konnten, uns je gelangweilt zu haben,
ja noch mehr, daß wir fast ungern und wider Willen unser gemüthliches Steerage
verließen, als unser Schiff in dem Hafen von New Orleans an dem amerikani¬
schen Festlande anlegte.




Neueste englische Literatur.
Robert Browning.

Browning ist der bedeutendste Dichter jener jungenglischen Schule, die mit
den Traditionen der ältern Literatur vollständig bricht und sich der metaphysischen
Richtung der deutschen Poesie anschließt. So seltsam diese Schule auf den ersten
Anblick gegen diejenigen englischen Dichter absticht, an die wir unsre Kenntniß
des britischen Nationalcharakters anzuknüpfen gewöhnt sind, so steht sie doch nicht
außerhalb der Entwickelung der Literatur. Die Elemente derselben sind bereits
in den bedeutenden Dichtern zu Anfang dieses Jahrhunderts zu finden. Words-
worth hat die Poesie an philosophische Contemplation gewohnt, Byron dem indi¬
viduellen Jnstinct im Gegensatz gegen die Regel und das Gesetz einen kühnen
poetischen Ausdruck gegeben, und Shelley dem träumerischen Spiel mit meta¬
physischen Abstractionen und gestaltlosen Bildern Eingang verschafft. Dann hat
Thomas Carlyle die deutsche Poesie in England eingebürgert, nicht nur durch
seine Uebersetzungen, sondern vorzugsweise durch seinen eigenen Styl, der mehr
an Jean Paul erinnern, als an irgend ein englisches Vorbild. Er hat den Cultus
des Genius, der sich in den früheren Dichtern nnr als Jnstinct aussprach, zu
einer Doctrin abgerundet. Dann sind von Deutschland her Hoffmann und Heine,
von Frankreich vorzugsweise Balzac eingeführt, und jene Poesie des Kontrastes,
die Glauben und Zweifel, Enthusiasmus und Ironie, Uebermuth und Blasirtheit
so in einander verwebt, daß das Eine das Andere aufhebt, hat sich auch des
englischen Denkens und Empfindens bemächtigt.

Der Grundgedanke, den wir in sämmtlichen Gedichten Browning's wieder¬
finden, ist der bekannte Faustische, daß das höher strebende Gemüth sich an
endlichen Dingen nicht befriedigen kann und mit leidenschaftlicher Sehnsucht dem
Absoluten nachstrebt, welches sich doch seiner Natur nach dem Verständniß wie
dem Gefühl entzieht. Der Dichter hat eine umfassende Bildung, einen großen
Reichthum empfangener Reflexionen und anticipirter Empfindungen. Diese ver¬
allgemeinern sich in seiner Seele zu Abstractionen, in deuen von der ursprüng¬
lichen Vorstellung eigentlich weiter Nichts übrig bleibt, als die Stimmung, die um


dem andern verfloß, ohne daß wir sagen konnten, uns je gelangweilt zu haben,
ja noch mehr, daß wir fast ungern und wider Willen unser gemüthliches Steerage
verließen, als unser Schiff in dem Hafen von New Orleans an dem amerikani¬
schen Festlande anlegte.




Neueste englische Literatur.
Robert Browning.

Browning ist der bedeutendste Dichter jener jungenglischen Schule, die mit
den Traditionen der ältern Literatur vollständig bricht und sich der metaphysischen
Richtung der deutschen Poesie anschließt. So seltsam diese Schule auf den ersten
Anblick gegen diejenigen englischen Dichter absticht, an die wir unsre Kenntniß
des britischen Nationalcharakters anzuknüpfen gewöhnt sind, so steht sie doch nicht
außerhalb der Entwickelung der Literatur. Die Elemente derselben sind bereits
in den bedeutenden Dichtern zu Anfang dieses Jahrhunderts zu finden. Words-
worth hat die Poesie an philosophische Contemplation gewohnt, Byron dem indi¬
viduellen Jnstinct im Gegensatz gegen die Regel und das Gesetz einen kühnen
poetischen Ausdruck gegeben, und Shelley dem träumerischen Spiel mit meta¬
physischen Abstractionen und gestaltlosen Bildern Eingang verschafft. Dann hat
Thomas Carlyle die deutsche Poesie in England eingebürgert, nicht nur durch
seine Uebersetzungen, sondern vorzugsweise durch seinen eigenen Styl, der mehr
an Jean Paul erinnern, als an irgend ein englisches Vorbild. Er hat den Cultus
des Genius, der sich in den früheren Dichtern nnr als Jnstinct aussprach, zu
einer Doctrin abgerundet. Dann sind von Deutschland her Hoffmann und Heine,
von Frankreich vorzugsweise Balzac eingeführt, und jene Poesie des Kontrastes,
die Glauben und Zweifel, Enthusiasmus und Ironie, Uebermuth und Blasirtheit
so in einander verwebt, daß das Eine das Andere aufhebt, hat sich auch des
englischen Denkens und Empfindens bemächtigt.

Der Grundgedanke, den wir in sämmtlichen Gedichten Browning's wieder¬
finden, ist der bekannte Faustische, daß das höher strebende Gemüth sich an
endlichen Dingen nicht befriedigen kann und mit leidenschaftlicher Sehnsucht dem
Absoluten nachstrebt, welches sich doch seiner Natur nach dem Verständniß wie
dem Gefühl entzieht. Der Dichter hat eine umfassende Bildung, einen großen
Reichthum empfangener Reflexionen und anticipirter Empfindungen. Diese ver¬
allgemeinern sich in seiner Seele zu Abstractionen, in deuen von der ursprüng¬
lichen Vorstellung eigentlich weiter Nichts übrig bleibt, als die Stimmung, die um


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 11, 1852, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341573_93902/388>, abgerufen am 02.05.2024.