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Die Grenzboten. Jg. 11, 1852, II. Semester. III. Band.

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' Also nicht allein in den katholischen, sondern auch in den protestantischen
Staaten hat man die Freiheiten der übrigen Unterthanen beschränkt, die Freiheit
der Kirche dagegen erweitert. Man hat in dieser Beziehung die entgegengesetztesten
Gesichtspunkte durcheinander gemischt, man hat bald im Sinn des Liberalismus,
bald im Namen des conservativen Princips sich der Kirche angenommen. Cha¬
rakteristisch ist die neueste Rundschau der Kreuzzeitung. Wir haben schon früher
die Ansicht des Herrn v. Gerlach erörtert, daß Preußen nicht ein paritätischer,
sondern ein evangelischer Staat sei, und haben ihr im Wesentlichen beigepflichtet.
Er giebt dieser Ansicht jetzt aber eine ganz eigenthümliche Wendung. Nach ihm
hat gerade die evangelische Kirche das größte Interesse, die katholische Kirche zu
pflegen und zu stärken. Wir hatten früher geglaubt, daß das Papstthum, die
Ehelosigkeit der Geistlichen, die Klostergelübde, der Ablaß und andere sociale
Einrichtungen, ganz abgesehen von den dogmatischen Unterschieden, Dinge wären,
an denen jeder gute Protestant ein Aergerniß nehmen müßte, wenn er nicht die
große weltgeschichtliche Bewegung, aus der seine Kirche hervorgegangen, überhaupt
läugnen wollte. Wir finden die Polemik gegen den Rationalismus vom Staud¬
punkte der protestantischen Rechtgläubigkeit aus sehr begreiflich und gerechtfertigt,
aber diese Toleranz und Humanität gegen ein in der Form wie im Wesen feind¬
seliges Glaubenssystem scheint uns ein sehr schlechtes Zeichen für die geistige
Klarheit und die sittliche Ehrlichkeit dieser Orthodoxie, und wenn ans der andern
Seite Herr v. Gerlach den Staat davor warnt, der drohenden Ausdehnung des
Katholicismus irgend wie durch.äußerliche Mittel zu begegnen, und ihm räth; seinen
Widerstand auf die immanente geistige Kraft seines Glaubens zu beschränken, so stim¬
men wir zwar vollkommen damit überein, müssen uns, aber doch wundern, daß er
denselben Gedanken nicht auch auf die Maßregeln anwendet, die er gegen die
Ketzer vorschlägt. Toleranz gegen die Mächtigen und Brutalität gegen die Schwa¬
chen, das ist ein Grundsatz,, der um so bedenklicher ist, je größern Anklang er
voraussichtlich gerade in den Kreisen finden wird, auf die Herr v. Gerlach Ein¬
fluß ausübt.




Wochenbericht.
Aus Agram.

-- Wenn Ihnen ihr Correspondent ein halbes Jahr nicht
schreibt, mögen Sie überzeugt sein, daß der einzige Grund im Mangel an Stoff liegt.
Selbst die "illyrische Literatur" -- diese galvanisirte Leiche -- ist spurlos verschwunden.
Von unsern Magyaroncn ist eben so wenig etwas zu melden; die meiste." derselben sind
"emigrirt" und was das Jnteressanteste an der Sache ist, die "kroatisch-magyaronische
Emigration" lebt in Wien und Gratz ruhig, friedlich, unangefochten. Der einzige Mann
unter den vielen Schreihälsen dieser Faction, der turopoljer Landgraf Anton Daniel


' Also nicht allein in den katholischen, sondern auch in den protestantischen
Staaten hat man die Freiheiten der übrigen Unterthanen beschränkt, die Freiheit
der Kirche dagegen erweitert. Man hat in dieser Beziehung die entgegengesetztesten
Gesichtspunkte durcheinander gemischt, man hat bald im Sinn des Liberalismus,
bald im Namen des conservativen Princips sich der Kirche angenommen. Cha¬
rakteristisch ist die neueste Rundschau der Kreuzzeitung. Wir haben schon früher
die Ansicht des Herrn v. Gerlach erörtert, daß Preußen nicht ein paritätischer,
sondern ein evangelischer Staat sei, und haben ihr im Wesentlichen beigepflichtet.
Er giebt dieser Ansicht jetzt aber eine ganz eigenthümliche Wendung. Nach ihm
hat gerade die evangelische Kirche das größte Interesse, die katholische Kirche zu
pflegen und zu stärken. Wir hatten früher geglaubt, daß das Papstthum, die
Ehelosigkeit der Geistlichen, die Klostergelübde, der Ablaß und andere sociale
Einrichtungen, ganz abgesehen von den dogmatischen Unterschieden, Dinge wären,
an denen jeder gute Protestant ein Aergerniß nehmen müßte, wenn er nicht die
große weltgeschichtliche Bewegung, aus der seine Kirche hervorgegangen, überhaupt
läugnen wollte. Wir finden die Polemik gegen den Rationalismus vom Staud¬
punkte der protestantischen Rechtgläubigkeit aus sehr begreiflich und gerechtfertigt,
aber diese Toleranz und Humanität gegen ein in der Form wie im Wesen feind¬
seliges Glaubenssystem scheint uns ein sehr schlechtes Zeichen für die geistige
Klarheit und die sittliche Ehrlichkeit dieser Orthodoxie, und wenn ans der andern
Seite Herr v. Gerlach den Staat davor warnt, der drohenden Ausdehnung des
Katholicismus irgend wie durch.äußerliche Mittel zu begegnen, und ihm räth; seinen
Widerstand auf die immanente geistige Kraft seines Glaubens zu beschränken, so stim¬
men wir zwar vollkommen damit überein, müssen uns, aber doch wundern, daß er
denselben Gedanken nicht auch auf die Maßregeln anwendet, die er gegen die
Ketzer vorschlägt. Toleranz gegen die Mächtigen und Brutalität gegen die Schwa¬
chen, das ist ein Grundsatz,, der um so bedenklicher ist, je größern Anklang er
voraussichtlich gerade in den Kreisen finden wird, auf die Herr v. Gerlach Ein¬
fluß ausübt.




Wochenbericht.
Aus Agram.

— Wenn Ihnen ihr Correspondent ein halbes Jahr nicht
schreibt, mögen Sie überzeugt sein, daß der einzige Grund im Mangel an Stoff liegt.
Selbst die „illyrische Literatur" — diese galvanisirte Leiche — ist spurlos verschwunden.
Von unsern Magyaroncn ist eben so wenig etwas zu melden; die meiste.» derselben sind
„emigrirt" und was das Jnteressanteste an der Sache ist, die „kroatisch-magyaronische
Emigration" lebt in Wien und Gratz ruhig, friedlich, unangefochten. Der einzige Mann
unter den vielen Schreihälsen dieser Faction, der turopoljer Landgraf Anton Daniel


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 11, 1852, II. Semester. III. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341573_94440/120>, abgerufen am 07.05.2024.