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Die Grenzboten. Jg. 11, 1852, II. Semester. III. Band.

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Charakterbilder aus der deutschen Restaurations¬
literatur.
Joseph Freiherr von Eichendorff.

Es grassirt unter vielen unsrer neuen Belletristen,, welche die fehlende Dis¬
ciplin ihres Geistes gern durch einige bequeme Stichwörter ergänzen, um sich in
der Verworrenheit ihrer Vorstellungen leichter zu orientiren, die Ansicht, im Norden
Deutschlands sei der Verstand zu Hause, im Süden dagegen Phantasie, Gemüth
und Poesie. Diese Vorstellung, deren Absurdität der erste oberflächliche Blick
ans die deutsche Literatur nachweist, kann man nur erklären, wenn man sich
daran erinnert, daß Phantasie und Gemüth bei uns ganz, conventionelle For¬
men angenommen haben, daß man nur diejenigen Empfindungen gemüthlich findet,
die sich auf hergebrachte, von beliebten Dichtern des Breitern ausgeführte Stoffe
beziehen. Seitdem vollends die Birch-Pfeiffer das Auerbach'sche Lorle dem
Theaterpublicum zugänglich gemacht hat, wird man bald nichts mehr gemüthlich
finden, als was schwäbelt. Eichendorff aber können wir selbst in dieser -conven-
tionellen Bedeutung als eine Probe norddeutscher Gemüthlichkeit anführen. Er
ist in Schlesien geboren, und sein ganzes Leben fällt in den eigentlichen Norden
Denrschlcmds, Ostpreußen und Berlin. Trotzdem weiß kein Schwabe und
kein Oestreichs so gut zu schildern als er, wie die Brunnen rauschen und die
Nachtigallen schlagen, wie die Sommerlüfte wehen und wie die Mondcsstrcchlen,
ein freundliches Grün bescheinen, wie hübsche Dirnen aus den Erkern des
Morgens noch halb verschlafen auf die Wanderer grüßend herabblicken und
sich dazu die Haare strählen und dergleichen. Wir glauben nun zwar, daß
das Gemüth uicht unbedingt an diese lyrischen Requisiten gebunden ist, an
Brunnen, an Nachtigallen, an Mondesstrahlen und an verschlafene Mägdlein,
daß es sich vielmehr leicht verliert, wo es ihm dnrch fertigen Theaterstoff g<ir zu
bequem gemacht wird; aber bei Eichendorff ist wirkliches Gemüth, seine Gegen¬
stande sind von der Art, daß sie Jedermann ansprechen, daß man sich keine Mühe


Grenzboten/ III. -ILöZ. I-I
Charakterbilder aus der deutschen Restaurations¬
literatur.
Joseph Freiherr von Eichendorff.

Es grassirt unter vielen unsrer neuen Belletristen,, welche die fehlende Dis¬
ciplin ihres Geistes gern durch einige bequeme Stichwörter ergänzen, um sich in
der Verworrenheit ihrer Vorstellungen leichter zu orientiren, die Ansicht, im Norden
Deutschlands sei der Verstand zu Hause, im Süden dagegen Phantasie, Gemüth
und Poesie. Diese Vorstellung, deren Absurdität der erste oberflächliche Blick
ans die deutsche Literatur nachweist, kann man nur erklären, wenn man sich
daran erinnert, daß Phantasie und Gemüth bei uns ganz, conventionelle For¬
men angenommen haben, daß man nur diejenigen Empfindungen gemüthlich findet,
die sich auf hergebrachte, von beliebten Dichtern des Breitern ausgeführte Stoffe
beziehen. Seitdem vollends die Birch-Pfeiffer das Auerbach'sche Lorle dem
Theaterpublicum zugänglich gemacht hat, wird man bald nichts mehr gemüthlich
finden, als was schwäbelt. Eichendorff aber können wir selbst in dieser -conven-
tionellen Bedeutung als eine Probe norddeutscher Gemüthlichkeit anführen. Er
ist in Schlesien geboren, und sein ganzes Leben fällt in den eigentlichen Norden
Denrschlcmds, Ostpreußen und Berlin. Trotzdem weiß kein Schwabe und
kein Oestreichs so gut zu schildern als er, wie die Brunnen rauschen und die
Nachtigallen schlagen, wie die Sommerlüfte wehen und wie die Mondcsstrcchlen,
ein freundliches Grün bescheinen, wie hübsche Dirnen aus den Erkern des
Morgens noch halb verschlafen auf die Wanderer grüßend herabblicken und
sich dazu die Haare strählen und dergleichen. Wir glauben nun zwar, daß
das Gemüth uicht unbedingt an diese lyrischen Requisiten gebunden ist, an
Brunnen, an Nachtigallen, an Mondesstrahlen und an verschlafene Mägdlein,
daß es sich vielmehr leicht verliert, wo es ihm dnrch fertigen Theaterstoff g<ir zu
bequem gemacht wird; aber bei Eichendorff ist wirkliches Gemüth, seine Gegen¬
stande sind von der Art, daß sie Jedermann ansprechen, daß man sich keine Mühe


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[0173] Charakterbilder aus der deutschen Restaurations¬ literatur. Joseph Freiherr von Eichendorff. Es grassirt unter vielen unsrer neuen Belletristen,, welche die fehlende Dis¬ ciplin ihres Geistes gern durch einige bequeme Stichwörter ergänzen, um sich in der Verworrenheit ihrer Vorstellungen leichter zu orientiren, die Ansicht, im Norden Deutschlands sei der Verstand zu Hause, im Süden dagegen Phantasie, Gemüth und Poesie. Diese Vorstellung, deren Absurdität der erste oberflächliche Blick ans die deutsche Literatur nachweist, kann man nur erklären, wenn man sich daran erinnert, daß Phantasie und Gemüth bei uns ganz, conventionelle For¬ men angenommen haben, daß man nur diejenigen Empfindungen gemüthlich findet, die sich auf hergebrachte, von beliebten Dichtern des Breitern ausgeführte Stoffe beziehen. Seitdem vollends die Birch-Pfeiffer das Auerbach'sche Lorle dem Theaterpublicum zugänglich gemacht hat, wird man bald nichts mehr gemüthlich finden, als was schwäbelt. Eichendorff aber können wir selbst in dieser -conven- tionellen Bedeutung als eine Probe norddeutscher Gemüthlichkeit anführen. Er ist in Schlesien geboren, und sein ganzes Leben fällt in den eigentlichen Norden Denrschlcmds, Ostpreußen und Berlin. Trotzdem weiß kein Schwabe und kein Oestreichs so gut zu schildern als er, wie die Brunnen rauschen und die Nachtigallen schlagen, wie die Sommerlüfte wehen und wie die Mondcsstrcchlen, ein freundliches Grün bescheinen, wie hübsche Dirnen aus den Erkern des Morgens noch halb verschlafen auf die Wanderer grüßend herabblicken und sich dazu die Haare strählen und dergleichen. Wir glauben nun zwar, daß das Gemüth uicht unbedingt an diese lyrischen Requisiten gebunden ist, an Brunnen, an Nachtigallen, an Mondesstrahlen und an verschlafene Mägdlein, daß es sich vielmehr leicht verliert, wo es ihm dnrch fertigen Theaterstoff g<ir zu bequem gemacht wird; aber bei Eichendorff ist wirkliches Gemüth, seine Gegen¬ stande sind von der Art, daß sie Jedermann ansprechen, daß man sich keine Mühe Grenzboten/ III. -ILöZ. I-I

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 11, 1852, II. Semester. III. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341573_94440/173>, abgerufen am 07.05.2024.