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Die Grenzboten. Jg. 11, 1852, II. Semester. III. Band.

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Einige Glossen zum System des Constitutionalismus

Die unfreiwillige Muße in der Theilnahme an den öffentlichen Geschäften,
die, der liberalen Partei gegenwärtig zu Theil wird, giebt uns wieder Raum zur
Erörterung theoretischer Fragen. Solche Erörterungen sind auch für die Praxis
nicht unfruchtbar, wenn man nur stets bei den allgemeinen Principien die
bestimmten Fälle im Ange behält, auf die sie angewandt werden sollen.

Der Gegenstand, der uns hente beschäftigt, ist die Verschiedenheit zwischen
dem Liberalismus des -18. Jahrhunderts, und demjenigen Liberalismus, um dessen
Fcihne wir uus selber zu schaaren haben. Diese Verschiedenheit ist selten von
einem allgemeinern Gesichtspunkt aus aufgefaßt worden, sie macht sich aber in
dem praktischen Verhalten jeden Augenblick fühlbar, und es entsteht nicht selten
ein Zustand peinlicher Ungewißheit, nach welcher Seite hin man sich zu entscheiden
h"be, wenn das vermeintliche Princip mit der natürlichen Auffassung der Umstände
collidirt. Die Gegner des Liberalismus von den zwei entgegengesehen Extremen
haben uns Liberale daher oft als Doctrinairs verspottet, und wir sind zuweilen
durch ein gewisses Ehrgefühl dahin getrieben worden, uns doctrinairer auszusprechen,
"is eigentlich in unsrer Natur lag.

Um nicht mißverstanden zu werden, schicke" wir zwei Bemerkungen voraus.
Es versteht sich von selbst, daß wir mit allen Kräften, so lange es uns möglich
ist, an dem Geist und Buchstaben der gegenwärtigen Verfassung festhalten.
Dazu ist keine besondere politische Gesinnung nöthig, sondern nur der Anstand
eines rechtlichen Mannes. Es versteht sich eben so vou selbst, daß wir die
durch jahrhuudertlange Praxis in den constitutionellen Staaten gewonnenen
Resultate nicht gering anschlagen, daß wir sie bei jedem Collisionsfall und bei
jeder neuen Einrichtung zu Rathe ziehen werden, denn da die Civilisation aller
Völker in unsrem Jahrhundert sich immer mehr nähert, so wird die praktische
Erfahrung des einen in den meisten Fällen auch bei dem andern Anwendung
senden können, und das in der Entwickelung jüngere Volk wird nicht nöthig haben,
"lie die mühsamen und zum Theil zweckwidrigen Experimente durchzumachen, die


Gr-nzboten. III. -I8S2, S6
Einige Glossen zum System des Constitutionalismus

Die unfreiwillige Muße in der Theilnahme an den öffentlichen Geschäften,
die, der liberalen Partei gegenwärtig zu Theil wird, giebt uns wieder Raum zur
Erörterung theoretischer Fragen. Solche Erörterungen sind auch für die Praxis
nicht unfruchtbar, wenn man nur stets bei den allgemeinen Principien die
bestimmten Fälle im Ange behält, auf die sie angewandt werden sollen.

Der Gegenstand, der uns hente beschäftigt, ist die Verschiedenheit zwischen
dem Liberalismus des -18. Jahrhunderts, und demjenigen Liberalismus, um dessen
Fcihne wir uus selber zu schaaren haben. Diese Verschiedenheit ist selten von
einem allgemeinern Gesichtspunkt aus aufgefaßt worden, sie macht sich aber in
dem praktischen Verhalten jeden Augenblick fühlbar, und es entsteht nicht selten
ein Zustand peinlicher Ungewißheit, nach welcher Seite hin man sich zu entscheiden
h«be, wenn das vermeintliche Princip mit der natürlichen Auffassung der Umstände
collidirt. Die Gegner des Liberalismus von den zwei entgegengesehen Extremen
haben uns Liberale daher oft als Doctrinairs verspottet, und wir sind zuweilen
durch ein gewisses Ehrgefühl dahin getrieben worden, uns doctrinairer auszusprechen,
"is eigentlich in unsrer Natur lag.

Um nicht mißverstanden zu werden, schicke» wir zwei Bemerkungen voraus.
Es versteht sich von selbst, daß wir mit allen Kräften, so lange es uns möglich
ist, an dem Geist und Buchstaben der gegenwärtigen Verfassung festhalten.
Dazu ist keine besondere politische Gesinnung nöthig, sondern nur der Anstand
eines rechtlichen Mannes. Es versteht sich eben so vou selbst, daß wir die
durch jahrhuudertlange Praxis in den constitutionellen Staaten gewonnenen
Resultate nicht gering anschlagen, daß wir sie bei jedem Collisionsfall und bei
jeder neuen Einrichtung zu Rathe ziehen werden, denn da die Civilisation aller
Völker in unsrem Jahrhundert sich immer mehr nähert, so wird die praktische
Erfahrung des einen in den meisten Fällen auch bei dem andern Anwendung
senden können, und das in der Entwickelung jüngere Volk wird nicht nöthig haben,
"lie die mühsamen und zum Theil zweckwidrigen Experimente durchzumachen, die


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[0453] Einige Glossen zum System des Constitutionalismus Die unfreiwillige Muße in der Theilnahme an den öffentlichen Geschäften, die, der liberalen Partei gegenwärtig zu Theil wird, giebt uns wieder Raum zur Erörterung theoretischer Fragen. Solche Erörterungen sind auch für die Praxis nicht unfruchtbar, wenn man nur stets bei den allgemeinen Principien die bestimmten Fälle im Ange behält, auf die sie angewandt werden sollen. Der Gegenstand, der uns hente beschäftigt, ist die Verschiedenheit zwischen dem Liberalismus des -18. Jahrhunderts, und demjenigen Liberalismus, um dessen Fcihne wir uus selber zu schaaren haben. Diese Verschiedenheit ist selten von einem allgemeinern Gesichtspunkt aus aufgefaßt worden, sie macht sich aber in dem praktischen Verhalten jeden Augenblick fühlbar, und es entsteht nicht selten ein Zustand peinlicher Ungewißheit, nach welcher Seite hin man sich zu entscheiden h«be, wenn das vermeintliche Princip mit der natürlichen Auffassung der Umstände collidirt. Die Gegner des Liberalismus von den zwei entgegengesehen Extremen haben uns Liberale daher oft als Doctrinairs verspottet, und wir sind zuweilen durch ein gewisses Ehrgefühl dahin getrieben worden, uns doctrinairer auszusprechen, "is eigentlich in unsrer Natur lag. Um nicht mißverstanden zu werden, schicke» wir zwei Bemerkungen voraus. Es versteht sich von selbst, daß wir mit allen Kräften, so lange es uns möglich ist, an dem Geist und Buchstaben der gegenwärtigen Verfassung festhalten. Dazu ist keine besondere politische Gesinnung nöthig, sondern nur der Anstand eines rechtlichen Mannes. Es versteht sich eben so vou selbst, daß wir die durch jahrhuudertlange Praxis in den constitutionellen Staaten gewonnenen Resultate nicht gering anschlagen, daß wir sie bei jedem Collisionsfall und bei jeder neuen Einrichtung zu Rathe ziehen werden, denn da die Civilisation aller Völker in unsrem Jahrhundert sich immer mehr nähert, so wird die praktische Erfahrung des einen in den meisten Fällen auch bei dem andern Anwendung senden können, und das in der Entwickelung jüngere Volk wird nicht nöthig haben, "lie die mühsamen und zum Theil zweckwidrigen Experimente durchzumachen, die Gr-nzboten. III. -I8S2, S6

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 11, 1852, II. Semester. III. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341573_94440/453>, abgerufen am 07.05.2024.