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Die Grenzboten. Jg. 11, 1852, II. Semester. IV. Band.

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Die christlich-germanische Baukunst.

Unter diesem Titel hat der bekannte ultramontane Abgeordnete zur zweiten
Kammer in Berlin, August Reichensperger, eine kleine Schrift veröffentlicht,
in welcher er an Stelle des jetzt herrschenden antikisirenden oder experimentirenden
Geschmacks in der Baukunst die Rückkehr zum Styl des Mittelalters empfiehlt. Wir
glauben unsre Leser darauf aufmerksam machen zu müssen, da die Schrift vieles
Beherzigenswerthe enthält. Zwar müssen wir gestehen, daß wir es für viel
zweckmäßiger halten würden, zwei Dinge, die nicht zusammengehören, nicht zu
verwechseln. Herr Reichensperger kann keinen Augenblick das Interesse seiner
Kirche aus den Augen lassen, er bringt beständig ultramontane Gründe für
seinen Geschmack vor, der sich doch eigentlich nnr aus Gründen der Zweckmäßig¬
keit und der Schönheit rechtfertigen sollte. Wir verdanken gerade dem römischen,
mittelbar dem päpstlichen Einfluß die Renaissance, und wenn uns die Gothik
wirklich wieder zum Papstthum'zurückführen sollte, so würden wir nicht sehr em-
fänglich dafür sein. -- Aber es fehlt dem Verfasser auch nicht an Gründen
von allgemeinem Interesse. Als Ideal stellt er dasjenige Bauwerk auf, "in
welchem die zweckmäßigste Einrichtung mit der dauerhaftesten Aus¬
führung und bedeutungsvollsten Anordnung, in welchem Klarheit und
Einfachheit mit Reichthum und lebenvollem Wechsel, Folgerichtigkeit
mit Freiheit in der Art sich verbunden und geeint finden, daß eine harmo¬
nische Gesa.mmtwirkung entsteht, worin das Einzelne, wenn auch in sich
noch so vollendet, doch immer dem Ganzen sich unterordnet, das Ganze aber
seine Bestnnmuug, so wie überhaupt die ihm zu Grunde liegende Idee in
unzweideutiger, charakteristischer Weise zu erkennen giebt." -- Diesem Ideal ent¬
spricht nach seiner Ansicht am meisten die mittelalterliche Baukunst, deren Hcmpt-
gesch ist, "daß an einem Bauwerke kein Glied vorkommen darf, wel¬
ches nicht durch die Grundconstruction bedingt ist und einen be¬
stimmten Zweck in derselben zu erfüllen hat."-- "Mau trete vor einen
irgend bedeutenderen mittelalterlichen Ban, dessen ursprünglicher Plan nicht durch
spätere Einschiebsel alterirt worden ist, und man wird sofort gewahren, wie der
Grundriß in allen seinen Dispositionen nach dem Zwecke und der Idee des
Ganzen um einen festen Kern herum sich gestaltet; wie sodann der Aufriß mit
logischer Nothwendigkeit aus dem Grundrisse erwächst und wie jede Gliederung
und jedes Ornament nur als eine höhere Entwickelung der nothwendigen
Constrnctionstheile erscheinen, gleichsam als deren consequente Fortbildung in das
freie Gebiet der Schönheit. Wie die Blätter eines Baumes in lebcnvotter, un¬
endlicher Mannichfaltigkeit den Aesten entwachsen und doch immer Gesetz und
Wesen des Stammes an sich tragen, so das Stab- und Maßwerk, die Spiere


Die christlich-germanische Baukunst.

Unter diesem Titel hat der bekannte ultramontane Abgeordnete zur zweiten
Kammer in Berlin, August Reichensperger, eine kleine Schrift veröffentlicht,
in welcher er an Stelle des jetzt herrschenden antikisirenden oder experimentirenden
Geschmacks in der Baukunst die Rückkehr zum Styl des Mittelalters empfiehlt. Wir
glauben unsre Leser darauf aufmerksam machen zu müssen, da die Schrift vieles
Beherzigenswerthe enthält. Zwar müssen wir gestehen, daß wir es für viel
zweckmäßiger halten würden, zwei Dinge, die nicht zusammengehören, nicht zu
verwechseln. Herr Reichensperger kann keinen Augenblick das Interesse seiner
Kirche aus den Augen lassen, er bringt beständig ultramontane Gründe für
seinen Geschmack vor, der sich doch eigentlich nnr aus Gründen der Zweckmäßig¬
keit und der Schönheit rechtfertigen sollte. Wir verdanken gerade dem römischen,
mittelbar dem päpstlichen Einfluß die Renaissance, und wenn uns die Gothik
wirklich wieder zum Papstthum'zurückführen sollte, so würden wir nicht sehr em-
fänglich dafür sein. — Aber es fehlt dem Verfasser auch nicht an Gründen
von allgemeinem Interesse. Als Ideal stellt er dasjenige Bauwerk auf, „in
welchem die zweckmäßigste Einrichtung mit der dauerhaftesten Aus¬
führung und bedeutungsvollsten Anordnung, in welchem Klarheit und
Einfachheit mit Reichthum und lebenvollem Wechsel, Folgerichtigkeit
mit Freiheit in der Art sich verbunden und geeint finden, daß eine harmo¬
nische Gesa.mmtwirkung entsteht, worin das Einzelne, wenn auch in sich
noch so vollendet, doch immer dem Ganzen sich unterordnet, das Ganze aber
seine Bestnnmuug, so wie überhaupt die ihm zu Grunde liegende Idee in
unzweideutiger, charakteristischer Weise zu erkennen giebt." — Diesem Ideal ent¬
spricht nach seiner Ansicht am meisten die mittelalterliche Baukunst, deren Hcmpt-
gesch ist, „daß an einem Bauwerke kein Glied vorkommen darf, wel¬
ches nicht durch die Grundconstruction bedingt ist und einen be¬
stimmten Zweck in derselben zu erfüllen hat."— „Mau trete vor einen
irgend bedeutenderen mittelalterlichen Ban, dessen ursprünglicher Plan nicht durch
spätere Einschiebsel alterirt worden ist, und man wird sofort gewahren, wie der
Grundriß in allen seinen Dispositionen nach dem Zwecke und der Idee des
Ganzen um einen festen Kern herum sich gestaltet; wie sodann der Aufriß mit
logischer Nothwendigkeit aus dem Grundrisse erwächst und wie jede Gliederung
und jedes Ornament nur als eine höhere Entwickelung der nothwendigen
Constrnctionstheile erscheinen, gleichsam als deren consequente Fortbildung in das
freie Gebiet der Schönheit. Wie die Blätter eines Baumes in lebcnvotter, un¬
endlicher Mannichfaltigkeit den Aesten entwachsen und doch immer Gesetz und
Wesen des Stammes an sich tragen, so das Stab- und Maßwerk, die Spiere


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[0351] Die christlich-germanische Baukunst. Unter diesem Titel hat der bekannte ultramontane Abgeordnete zur zweiten Kammer in Berlin, August Reichensperger, eine kleine Schrift veröffentlicht, in welcher er an Stelle des jetzt herrschenden antikisirenden oder experimentirenden Geschmacks in der Baukunst die Rückkehr zum Styl des Mittelalters empfiehlt. Wir glauben unsre Leser darauf aufmerksam machen zu müssen, da die Schrift vieles Beherzigenswerthe enthält. Zwar müssen wir gestehen, daß wir es für viel zweckmäßiger halten würden, zwei Dinge, die nicht zusammengehören, nicht zu verwechseln. Herr Reichensperger kann keinen Augenblick das Interesse seiner Kirche aus den Augen lassen, er bringt beständig ultramontane Gründe für seinen Geschmack vor, der sich doch eigentlich nnr aus Gründen der Zweckmäßig¬ keit und der Schönheit rechtfertigen sollte. Wir verdanken gerade dem römischen, mittelbar dem päpstlichen Einfluß die Renaissance, und wenn uns die Gothik wirklich wieder zum Papstthum'zurückführen sollte, so würden wir nicht sehr em- fänglich dafür sein. — Aber es fehlt dem Verfasser auch nicht an Gründen von allgemeinem Interesse. Als Ideal stellt er dasjenige Bauwerk auf, „in welchem die zweckmäßigste Einrichtung mit der dauerhaftesten Aus¬ führung und bedeutungsvollsten Anordnung, in welchem Klarheit und Einfachheit mit Reichthum und lebenvollem Wechsel, Folgerichtigkeit mit Freiheit in der Art sich verbunden und geeint finden, daß eine harmo¬ nische Gesa.mmtwirkung entsteht, worin das Einzelne, wenn auch in sich noch so vollendet, doch immer dem Ganzen sich unterordnet, das Ganze aber seine Bestnnmuug, so wie überhaupt die ihm zu Grunde liegende Idee in unzweideutiger, charakteristischer Weise zu erkennen giebt." — Diesem Ideal ent¬ spricht nach seiner Ansicht am meisten die mittelalterliche Baukunst, deren Hcmpt- gesch ist, „daß an einem Bauwerke kein Glied vorkommen darf, wel¬ ches nicht durch die Grundconstruction bedingt ist und einen be¬ stimmten Zweck in derselben zu erfüllen hat."— „Mau trete vor einen irgend bedeutenderen mittelalterlichen Ban, dessen ursprünglicher Plan nicht durch spätere Einschiebsel alterirt worden ist, und man wird sofort gewahren, wie der Grundriß in allen seinen Dispositionen nach dem Zwecke und der Idee des Ganzen um einen festen Kern herum sich gestaltet; wie sodann der Aufriß mit logischer Nothwendigkeit aus dem Grundrisse erwächst und wie jede Gliederung und jedes Ornament nur als eine höhere Entwickelung der nothwendigen Constrnctionstheile erscheinen, gleichsam als deren consequente Fortbildung in das freie Gebiet der Schönheit. Wie die Blätter eines Baumes in lebcnvotter, un¬ endlicher Mannichfaltigkeit den Aesten entwachsen und doch immer Gesetz und Wesen des Stammes an sich tragen, so das Stab- und Maßwerk, die Spiere

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 11, 1852, II. Semester. IV. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341573_94982/351>, abgerufen am 02.05.2024.