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Die Grenzboten. Jg. 12, 1853, II. Semester. I. Band.

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zu den besten, die Tieck geschrieben hat; sie eröffnen uns einen heitern Blick
in das Leben n"d geben uns ein verständiges und geprüftes Urtheil. In der
historischen Darstellung dagegen ist Tieck schwach, seine Gestalten verlieren sich
zu sehr in Schattenbilder und Abstractionen, und das ist auch mit dem griechischen
Kaiser der Fall. Im übrigen verweisen wir auf unsre allgemeine Kritik bei dem
Erscheinen der ersten Bände und auf die Notizen bei Gelegenheit der Urania.
Nach Abschloß der ganzen Sammlung bringen wir noch einmal eine Gesammt-
darstellung von der allmäligen Entwickelung Tiecks als Novellisten. --


H> C. Andersen sämmtliche Werke. Vom Verfasser besorgte Ausgabe. Leipzig,
Lvrck. -- 1. Band: Gesammelte Märchen und Historien. -- Bilderbuch ohne
Bilder. -- 2. Band: Der Jmprovisator.

In der Regel finden Dichter, deren Virtuosität mehr ins Kleine geht, bei
einer fremden Nation schwer Eingang, weil in ihrem Detail eine Menge von
Beziehungen vorkommen müssen, die dem Fremden nicht verständlich sind. An¬
dersen aber hat in Deutschland soviel Wohlwollen gefunden, daß er hier fast
ebenso zu Hause erscheint, wie in seinem Vaterlande Dänemark. Der Grund
liegt vorzüglich in der Weise seines Schaffens, welches grade zur reckten Zeit für
Deutschland kam, um der in stoffloser Idealismus versunkenen Poesie zu zeigen,
daß man anch Freude an den Gegenständen haben könne. Den meisten Anklang
haben mit Recht seine Märchen gesunden, ihrer humoristischen, phantastischen
Färbung wegen. Nur sehr selten wird der Dichter sentimental. Die Einfälle
sind überall ebenso zierlich, als überraschend. Die Kaiser, Könige, Tischler,
Schneider, Tannenbäume, Rosen, Nachtigallen, Elfen und dergleichen, unter
denen wir uus in seinen Märchen bewegen, haben ebensowenig von dem bittern
Ernst des wirklichen Lebens, als von dem farblosen Idealismus unsrer aus
Modejournalen copirten Märchenfigureu. Allerliebst ist es, wie der Dichter
mit dem Pantheismus einer gemüthvollen Kinderseele die ganze Welt humanisirt,
von der Sonne und ihren Planeten bis herab zu einem Pantoffel und einer
schmutzigen Gaslaterne. Es ist nicht die bequeme Methode, einem beliebigen,
belebten oder unbelebten Gegenstand Worte in den Mund zu legen und wohl
oder übel einen Dialog zwischen vernunftlosen Wesen Hervorznspinnen, wir werden
ernstlich in die Seele der Tiscke, Stühle, Violinen^Elfen, Kobolde versetzt; wir
fühlen des Dichters psychologischen Blick bis in die alte, abgebrochene Stopfnadel
hinein, die durch einen Lackaufguß in den Rang einer Brustnadel erhoben ist;
wir fühlen lebhaft, wenn dieser Kater, dieser Contrebaß, dieses Immergrün
Gedanken hätte, so müßten sie so und uicht anders denken. Selbst dem alten
Peter Schlemihl und seinem verloren gegangenen Schatten weiß Andersen eine
neue humoristische Seite abzugewinnen. Andersen ist eine echte Dichternatur,
welche die verkehrte Welt, gegen die Tieck und die Romantiker nur reflectirte


zu den besten, die Tieck geschrieben hat; sie eröffnen uns einen heitern Blick
in das Leben n»d geben uns ein verständiges und geprüftes Urtheil. In der
historischen Darstellung dagegen ist Tieck schwach, seine Gestalten verlieren sich
zu sehr in Schattenbilder und Abstractionen, und das ist auch mit dem griechischen
Kaiser der Fall. Im übrigen verweisen wir auf unsre allgemeine Kritik bei dem
Erscheinen der ersten Bände und auf die Notizen bei Gelegenheit der Urania.
Nach Abschloß der ganzen Sammlung bringen wir noch einmal eine Gesammt-
darstellung von der allmäligen Entwickelung Tiecks als Novellisten. —


H> C. Andersen sämmtliche Werke. Vom Verfasser besorgte Ausgabe. Leipzig,
Lvrck. — 1. Band: Gesammelte Märchen und Historien. — Bilderbuch ohne
Bilder. — 2. Band: Der Jmprovisator.

In der Regel finden Dichter, deren Virtuosität mehr ins Kleine geht, bei
einer fremden Nation schwer Eingang, weil in ihrem Detail eine Menge von
Beziehungen vorkommen müssen, die dem Fremden nicht verständlich sind. An¬
dersen aber hat in Deutschland soviel Wohlwollen gefunden, daß er hier fast
ebenso zu Hause erscheint, wie in seinem Vaterlande Dänemark. Der Grund
liegt vorzüglich in der Weise seines Schaffens, welches grade zur reckten Zeit für
Deutschland kam, um der in stoffloser Idealismus versunkenen Poesie zu zeigen,
daß man anch Freude an den Gegenständen haben könne. Den meisten Anklang
haben mit Recht seine Märchen gesunden, ihrer humoristischen, phantastischen
Färbung wegen. Nur sehr selten wird der Dichter sentimental. Die Einfälle
sind überall ebenso zierlich, als überraschend. Die Kaiser, Könige, Tischler,
Schneider, Tannenbäume, Rosen, Nachtigallen, Elfen und dergleichen, unter
denen wir uus in seinen Märchen bewegen, haben ebensowenig von dem bittern
Ernst des wirklichen Lebens, als von dem farblosen Idealismus unsrer aus
Modejournalen copirten Märchenfigureu. Allerliebst ist es, wie der Dichter
mit dem Pantheismus einer gemüthvollen Kinderseele die ganze Welt humanisirt,
von der Sonne und ihren Planeten bis herab zu einem Pantoffel und einer
schmutzigen Gaslaterne. Es ist nicht die bequeme Methode, einem beliebigen,
belebten oder unbelebten Gegenstand Worte in den Mund zu legen und wohl
oder übel einen Dialog zwischen vernunftlosen Wesen Hervorznspinnen, wir werden
ernstlich in die Seele der Tiscke, Stühle, Violinen^Elfen, Kobolde versetzt; wir
fühlen des Dichters psychologischen Blick bis in die alte, abgebrochene Stopfnadel
hinein, die durch einen Lackaufguß in den Rang einer Brustnadel erhoben ist;
wir fühlen lebhaft, wenn dieser Kater, dieser Contrebaß, dieses Immergrün
Gedanken hätte, so müßten sie so und uicht anders denken. Selbst dem alten
Peter Schlemihl und seinem verloren gegangenen Schatten weiß Andersen eine
neue humoristische Seite abzugewinnen. Andersen ist eine echte Dichternatur,
welche die verkehrte Welt, gegen die Tieck und die Romantiker nur reflectirte


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[0377] zu den besten, die Tieck geschrieben hat; sie eröffnen uns einen heitern Blick in das Leben n»d geben uns ein verständiges und geprüftes Urtheil. In der historischen Darstellung dagegen ist Tieck schwach, seine Gestalten verlieren sich zu sehr in Schattenbilder und Abstractionen, und das ist auch mit dem griechischen Kaiser der Fall. Im übrigen verweisen wir auf unsre allgemeine Kritik bei dem Erscheinen der ersten Bände und auf die Notizen bei Gelegenheit der Urania. Nach Abschloß der ganzen Sammlung bringen wir noch einmal eine Gesammt- darstellung von der allmäligen Entwickelung Tiecks als Novellisten. — H> C. Andersen sämmtliche Werke. Vom Verfasser besorgte Ausgabe. Leipzig, Lvrck. — 1. Band: Gesammelte Märchen und Historien. — Bilderbuch ohne Bilder. — 2. Band: Der Jmprovisator. In der Regel finden Dichter, deren Virtuosität mehr ins Kleine geht, bei einer fremden Nation schwer Eingang, weil in ihrem Detail eine Menge von Beziehungen vorkommen müssen, die dem Fremden nicht verständlich sind. An¬ dersen aber hat in Deutschland soviel Wohlwollen gefunden, daß er hier fast ebenso zu Hause erscheint, wie in seinem Vaterlande Dänemark. Der Grund liegt vorzüglich in der Weise seines Schaffens, welches grade zur reckten Zeit für Deutschland kam, um der in stoffloser Idealismus versunkenen Poesie zu zeigen, daß man anch Freude an den Gegenständen haben könne. Den meisten Anklang haben mit Recht seine Märchen gesunden, ihrer humoristischen, phantastischen Färbung wegen. Nur sehr selten wird der Dichter sentimental. Die Einfälle sind überall ebenso zierlich, als überraschend. Die Kaiser, Könige, Tischler, Schneider, Tannenbäume, Rosen, Nachtigallen, Elfen und dergleichen, unter denen wir uus in seinen Märchen bewegen, haben ebensowenig von dem bittern Ernst des wirklichen Lebens, als von dem farblosen Idealismus unsrer aus Modejournalen copirten Märchenfigureu. Allerliebst ist es, wie der Dichter mit dem Pantheismus einer gemüthvollen Kinderseele die ganze Welt humanisirt, von der Sonne und ihren Planeten bis herab zu einem Pantoffel und einer schmutzigen Gaslaterne. Es ist nicht die bequeme Methode, einem beliebigen, belebten oder unbelebten Gegenstand Worte in den Mund zu legen und wohl oder übel einen Dialog zwischen vernunftlosen Wesen Hervorznspinnen, wir werden ernstlich in die Seele der Tiscke, Stühle, Violinen^Elfen, Kobolde versetzt; wir fühlen des Dichters psychologischen Blick bis in die alte, abgebrochene Stopfnadel hinein, die durch einen Lackaufguß in den Rang einer Brustnadel erhoben ist; wir fühlen lebhaft, wenn dieser Kater, dieser Contrebaß, dieses Immergrün Gedanken hätte, so müßten sie so und uicht anders denken. Selbst dem alten Peter Schlemihl und seinem verloren gegangenen Schatten weiß Andersen eine neue humoristische Seite abzugewinnen. Andersen ist eine echte Dichternatur, welche die verkehrte Welt, gegen die Tieck und die Romantiker nur reflectirte

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 12, 1853, II. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341576_96174/377>, abgerufen am 06.05.2024.