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Die Grenzboten. Jg. 12, 1853, II. Semester. I. Band.

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ist ganz detaillirt ausgeführt, und doch wissen wir in den meisten Fällen gar nicht,
wovon die Rede ist. Es werden mehre Bankrotte gemacht; einer erschießt
sich; es sind zwei Liebesverhältnisse vorhanden, und einen rührt der Schlag.
Aber wir erfahren nicht, ob wirklich ein Bankrott stattfindet, oder nur ein schein¬
barer, ob jener sich wirklich erschossen hat oder nicht, ob die Liebesverhältnisse
wirklich bestehen oder nicht. Das einzige Sichere bleibt, daß den einen der
Schlag rührt, und zwar grade diejenige Person des Stücks, die am wenigsten
dazu Veranlassung gibt; denn es ist ein braver, rechtschaffener alter Mann, der
von den Verirrungen der übrigen am wenigsten berührt wird. Eine solche Con-
fusion in den Motiven und in den Ereignissen ist uns selbst in der deutschen
Literatur noch nicht vorgekommen, und das will viel sagen. Von den Sitten,
die darin geschildert werden, wollen wir gar nicht rede". Daß ein reicher Bangnier
auf einem Fest seinem Sohn, einem promovirten Doctor, eine Ohrfeige gibt,
ohne daß dieser sich darüber wundert; daß eine Braut, die der edelste Charakter
des Stücks sein soll, zu einem jungen reichen Wüstling geht, sich von ihm halb
mit Champagner betrinken läßt, daß ein strebsamer Arbeiter, der gern seine Ver¬
wandten und seine Braut in eine gute Situation bringen möchte, eine neue tech¬
nische Erfindung, die er gemacht hat, und für die ihm ein reicher Engländer
800,000 Thaler bietet, seinem Brodherrn überläßt, den er weder achtet noch liebt,
ja der ihn eben auf das niederträchtigste behandelt hat, aus bloßem Edelmuth,
wie das alles und noch vieles andere, was noch unglaublicher ist, zusammenhängt,
das verstehe ein anderer. Wir müssen offen gestehen, daß uns über diesem
Stück Hören und Sehen vergangen ist. --

Das kleine französische Stück, das wir ans dem Titel genannt haben, gehört
zu der zierlichen Gattung der Proverbes. -- Die Lustspiele von Genie sind
Fabrikarbeit, aber in ihrer Anspruchslosigkeit erträglich genug.




Die Erhaltung des Friedens ist wahrscheinlich, aber "och nicht gewiß. Hätte
das hiesige Ministerium nicht noch andere Willensmeinnngen als die des Herr¬
schers zu berücksichtigen, so unterläge es keiner Frage, daß es den Ansgleichungs-
entwnrf der vier Großmächte sofort acceptirt haben würde. Allein, wie despotisch auch
immer die Regierungsform dieses Landes sein mag: das muselmännische Volk ist
gewohnt, bei ernsten Entscheidungen seine Stimme laut werden zu lassen, und
es nimmt sich das Recht, in die Angelegenheiten des Staates ein Wort hinein
zu reden, sobald die Führung derselben, seiner vorgefaßten, oft verblendeten und


ist ganz detaillirt ausgeführt, und doch wissen wir in den meisten Fällen gar nicht,
wovon die Rede ist. Es werden mehre Bankrotte gemacht; einer erschießt
sich; es sind zwei Liebesverhältnisse vorhanden, und einen rührt der Schlag.
Aber wir erfahren nicht, ob wirklich ein Bankrott stattfindet, oder nur ein schein¬
barer, ob jener sich wirklich erschossen hat oder nicht, ob die Liebesverhältnisse
wirklich bestehen oder nicht. Das einzige Sichere bleibt, daß den einen der
Schlag rührt, und zwar grade diejenige Person des Stücks, die am wenigsten
dazu Veranlassung gibt; denn es ist ein braver, rechtschaffener alter Mann, der
von den Verirrungen der übrigen am wenigsten berührt wird. Eine solche Con-
fusion in den Motiven und in den Ereignissen ist uns selbst in der deutschen
Literatur noch nicht vorgekommen, und das will viel sagen. Von den Sitten,
die darin geschildert werden, wollen wir gar nicht rede». Daß ein reicher Bangnier
auf einem Fest seinem Sohn, einem promovirten Doctor, eine Ohrfeige gibt,
ohne daß dieser sich darüber wundert; daß eine Braut, die der edelste Charakter
des Stücks sein soll, zu einem jungen reichen Wüstling geht, sich von ihm halb
mit Champagner betrinken läßt, daß ein strebsamer Arbeiter, der gern seine Ver¬
wandten und seine Braut in eine gute Situation bringen möchte, eine neue tech¬
nische Erfindung, die er gemacht hat, und für die ihm ein reicher Engländer
800,000 Thaler bietet, seinem Brodherrn überläßt, den er weder achtet noch liebt,
ja der ihn eben auf das niederträchtigste behandelt hat, aus bloßem Edelmuth,
wie das alles und noch vieles andere, was noch unglaublicher ist, zusammenhängt,
das verstehe ein anderer. Wir müssen offen gestehen, daß uns über diesem
Stück Hören und Sehen vergangen ist. —

Das kleine französische Stück, das wir ans dem Titel genannt haben, gehört
zu der zierlichen Gattung der Proverbes. — Die Lustspiele von Genie sind
Fabrikarbeit, aber in ihrer Anspruchslosigkeit erträglich genug.




Die Erhaltung des Friedens ist wahrscheinlich, aber »och nicht gewiß. Hätte
das hiesige Ministerium nicht noch andere Willensmeinnngen als die des Herr¬
schers zu berücksichtigen, so unterläge es keiner Frage, daß es den Ansgleichungs-
entwnrf der vier Großmächte sofort acceptirt haben würde. Allein, wie despotisch auch
immer die Regierungsform dieses Landes sein mag: das muselmännische Volk ist
gewohnt, bei ernsten Entscheidungen seine Stimme laut werden zu lassen, und
es nimmt sich das Recht, in die Angelegenheiten des Staates ein Wort hinein
zu reden, sobald die Führung derselben, seiner vorgefaßten, oft verblendeten und


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 12, 1853, II. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341576_96174/426>, abgerufen am 07.05.2024.