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Die Grenzboten. Jg. 12, 1853, II. Semester. II. Band.

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Die Verdammnis des Faust von H. Berlioz.

H. Berlioz hat wieder einmal eine musikalische Reise nach Deutschland an¬
getreten und fuhrt außer anderen Compositionen auch Bruchstücke seines Faust
dem deutschen Publicum vor. Er scheint für denselben besondere Theilnahme in
Deutschland zu erwarten, weil der Göthesche Faust die Grundlage bildet, und es
ist daher Pflicht der Kritik ein ernstes Urtheil über diese französische Transscrip-
tion des Faust abzugeben, um so mehr, als Berlioz gewohut ist, die Erfolge,
welche deutsche Gutmüthigkeit und Höflichkeit -- wenn nicht schlimmere Einflüsse
wirksam sind -- ihm zuzugestehen pflegt, in Paris als Folie zu benutzen, um
dort neue Erfolge zu erlangen.'

Der Titel "die Vcrdammmßdes Faust" weist freilich auf eine wenigstens
im Schluß von der Götheschen verschiedene Auffassung hin, allein was aus den
ersten Acten bekannt geworden ist, stimmt unangenehm mit Göthe überein. Ber¬
lioz nennt das Ganze eine Legende. Ob damit die geistige Auffassung oder die
musikalische Form bezeichnet sein soll, möchte schwer zu sagen sein. Die Form
entspricht -- soweit man bei Berlioz von bestimmt ausgeprägter und durchge¬
führter Form reden kann -- so ziemlich der des Oratoriums; es sind einzelne
breit ausgeführte Situationen aneinander gereiht, wobei der Schilderung durch
bloße Instrumentalmusik allerdings ein ausgedehnterer Raum, als früher üblich
war, eingeräumt worden ist. Das Recitativ, durch welches der Faden des sujets
fortgeführt wird, ist in der hauptsächlich durch Meyerbeer fixirten Weise des mo¬
dernen Opernrecitativs behandelt, stark nüancirt im Ausdruck, oft in die Cautilene
hineiuspielend, und stets vom vollen Orchester nicht so sehr unterstützt, als in den
Hintergrund gedrängt. Auf diesem Grunde heben sich dann einzelne Chöre,
Sologesänge und Ensembles vor, die in ihrer Anlage und Verbindung mit dem
Ganzen nichts Ungewöhnliches haben. Die ganze Auffassung und Behandlung
aber ist von dem, was wir unter legendenartig verstehen würden, so verschieden,
als schlichte Einfalt und frommer Glaube von bizarrer Grübelei und pretentiöser
Effecthascherei.


Grenzbote". IV. 18k>3, 46
Die Verdammnis des Faust von H. Berlioz.

H. Berlioz hat wieder einmal eine musikalische Reise nach Deutschland an¬
getreten und fuhrt außer anderen Compositionen auch Bruchstücke seines Faust
dem deutschen Publicum vor. Er scheint für denselben besondere Theilnahme in
Deutschland zu erwarten, weil der Göthesche Faust die Grundlage bildet, und es
ist daher Pflicht der Kritik ein ernstes Urtheil über diese französische Transscrip-
tion des Faust abzugeben, um so mehr, als Berlioz gewohut ist, die Erfolge,
welche deutsche Gutmüthigkeit und Höflichkeit — wenn nicht schlimmere Einflüsse
wirksam sind — ihm zuzugestehen pflegt, in Paris als Folie zu benutzen, um
dort neue Erfolge zu erlangen.'

Der Titel „die Vcrdammmßdes Faust" weist freilich auf eine wenigstens
im Schluß von der Götheschen verschiedene Auffassung hin, allein was aus den
ersten Acten bekannt geworden ist, stimmt unangenehm mit Göthe überein. Ber¬
lioz nennt das Ganze eine Legende. Ob damit die geistige Auffassung oder die
musikalische Form bezeichnet sein soll, möchte schwer zu sagen sein. Die Form
entspricht — soweit man bei Berlioz von bestimmt ausgeprägter und durchge¬
führter Form reden kann — so ziemlich der des Oratoriums; es sind einzelne
breit ausgeführte Situationen aneinander gereiht, wobei der Schilderung durch
bloße Instrumentalmusik allerdings ein ausgedehnterer Raum, als früher üblich
war, eingeräumt worden ist. Das Recitativ, durch welches der Faden des sujets
fortgeführt wird, ist in der hauptsächlich durch Meyerbeer fixirten Weise des mo¬
dernen Opernrecitativs behandelt, stark nüancirt im Ausdruck, oft in die Cautilene
hineiuspielend, und stets vom vollen Orchester nicht so sehr unterstützt, als in den
Hintergrund gedrängt. Auf diesem Grunde heben sich dann einzelne Chöre,
Sologesänge und Ensembles vor, die in ihrer Anlage und Verbindung mit dem
Ganzen nichts Ungewöhnliches haben. Die ganze Auffassung und Behandlung
aber ist von dem, was wir unter legendenartig verstehen würden, so verschieden,
als schlichte Einfalt und frommer Glaube von bizarrer Grübelei und pretentiöser
Effecthascherei.


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[0129] Die Verdammnis des Faust von H. Berlioz. H. Berlioz hat wieder einmal eine musikalische Reise nach Deutschland an¬ getreten und fuhrt außer anderen Compositionen auch Bruchstücke seines Faust dem deutschen Publicum vor. Er scheint für denselben besondere Theilnahme in Deutschland zu erwarten, weil der Göthesche Faust die Grundlage bildet, und es ist daher Pflicht der Kritik ein ernstes Urtheil über diese französische Transscrip- tion des Faust abzugeben, um so mehr, als Berlioz gewohut ist, die Erfolge, welche deutsche Gutmüthigkeit und Höflichkeit — wenn nicht schlimmere Einflüsse wirksam sind — ihm zuzugestehen pflegt, in Paris als Folie zu benutzen, um dort neue Erfolge zu erlangen.' Der Titel „die Vcrdammmßdes Faust" weist freilich auf eine wenigstens im Schluß von der Götheschen verschiedene Auffassung hin, allein was aus den ersten Acten bekannt geworden ist, stimmt unangenehm mit Göthe überein. Ber¬ lioz nennt das Ganze eine Legende. Ob damit die geistige Auffassung oder die musikalische Form bezeichnet sein soll, möchte schwer zu sagen sein. Die Form entspricht — soweit man bei Berlioz von bestimmt ausgeprägter und durchge¬ führter Form reden kann — so ziemlich der des Oratoriums; es sind einzelne breit ausgeführte Situationen aneinander gereiht, wobei der Schilderung durch bloße Instrumentalmusik allerdings ein ausgedehnterer Raum, als früher üblich war, eingeräumt worden ist. Das Recitativ, durch welches der Faden des sujets fortgeführt wird, ist in der hauptsächlich durch Meyerbeer fixirten Weise des mo¬ dernen Opernrecitativs behandelt, stark nüancirt im Ausdruck, oft in die Cautilene hineiuspielend, und stets vom vollen Orchester nicht so sehr unterstützt, als in den Hintergrund gedrängt. Auf diesem Grunde heben sich dann einzelne Chöre, Sologesänge und Ensembles vor, die in ihrer Anlage und Verbindung mit dem Ganzen nichts Ungewöhnliches haben. Die ganze Auffassung und Behandlung aber ist von dem, was wir unter legendenartig verstehen würden, so verschieden, als schlichte Einfalt und frommer Glaube von bizarrer Grübelei und pretentiöser Effecthascherei. Grenzbote». IV. 18k>3, 46

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 12, 1853, II. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341576_96706/129>, abgerufen am 19.05.2024.