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Die Grenzboten. Jg. 12, 1853, II. Semester. II. Band.

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die Hauptpunkte, den Plan, die Charaktere und den Stil. Man unterscheidet in
dem Plan die Exposition, den Knoten und die Entwickelung, in den Charakteren
die Leidenschaften und die Moral u. s. w. ^ So dachte mau früher über die
epische Poesie. Seit -13 Jahren hat sich das alles verändert. Das Epos ist
nicht mehr ein künstliches Werk, es ist nicht ein beliebiger Autor, der sich eiues
schönen Morgens an seinen Arbeitstisch setzt, und sich vornimmt, ein episches Gedicht
zu machen: das Epos ist vielmehr das instinctive Erzeugnis; eines Volksgeistes."

Man lese das übrige in dem Buche selbst nach; es ist doch sehr erfreulich,
wie auch in dieser Beziehung der Geist des deutschen Volks bei den Franzose"
Wurzel gefaßt. Freilich ist Se. Marc Girardin darin den meisten seiner College"
im Gebiet der Literaturgeschichte überlegen; sein neuestes Werk über Rousseau,
welches die Revue de deux Mondes mittheilt, legt wieder von seiner gründ¬
liche" Kritik und seinem unbefangenen Urtheil ein sehr günstiges Zeugniß ab. --


Reise um die Welt und drei Fahrten der k. britischen Fregatte Herald nach dem nörd¬
lichen Polarmeer zur Aufsuchung Sir John FrcinkliuS in den Jahren
-I8is--Von Berthold Seemann. A Bd., Hannover, Rümvlcr.

Für den Verfasser wäre" die Thatsachen die Hauptsache, die anmuthige
Darstellung nur soweit sie sich mit dem Ernst des Gegenstandes verträgt. "In
frühern Zeiten, da all und jedes sowol für den Verfasser wie für den Leser neu
und fesselnd war, ließ sich mit Leichtigkeit ein unterhaltendes und belehrendes
Buch schreibe". Allein heutzutage vermag ziemlich jeder Schulknabe eine leidlich
genaue Beschreibung der entferntesten Winkel der Erde zu geben, und wenn ein
Reisender mit etwas Neuem einwirken will, so muß er sosehr ins Detail gehen,
daß es dem Geschmack der meiste" Leser nicht immer entspricht, wie großer Vor¬
schub auch der Wissenschaft damit geleistet werden mag." -- Das Werk verdient
um so größere Beachtung, da es uns Theile der Welt vergegenwärtigt, die bis¬
her wenigstens noch nicht gründlich durchforscht sind: nämlich der erste Band Süd-
nnd Mittelamerika, der zweite Band die Nordpolgegende", endlich ein Stück von
China. Für jede Art naturhistorischer und politischer Fragen findet sich reich¬
liche Ausbeute. Im zweiten Band wird u. a. auch eine geschichtliche Uebersicht
der fünfjährigen Nachforschungen "ach Sir Joh" Franklin gegeben. -- Bei einem
Reisewerk ist Po" einem leitende" Princip, also einer Analyse, nicht die Rede,
die Summe der Einzelnheiten macht den ganzen Werth. Wir glauben also u"ser"
Leser" am besten dnrch die Mittheilung eines einzelnen Fragments den Ton und
die Haltung des Ganzen zu versinnlichen; wir wählen zu diesem Zweck die Be¬
schreibung von Rio Janeiro. --

"Rio Janeiro ist eine unangenehme Stadt und muß, wie die des Sultans,
aus der Ferne betrachtet werden; nur die Entfernung macht den Anblick erfreulich.
Es ist die Stadt der Contraste. Entzückt von der schönen Ansicht kann der Fremde


Grenjboten, IV. 18SZ. 19

die Hauptpunkte, den Plan, die Charaktere und den Stil. Man unterscheidet in
dem Plan die Exposition, den Knoten und die Entwickelung, in den Charakteren
die Leidenschaften und die Moral u. s. w. ^ So dachte mau früher über die
epische Poesie. Seit -13 Jahren hat sich das alles verändert. Das Epos ist
nicht mehr ein künstliches Werk, es ist nicht ein beliebiger Autor, der sich eiues
schönen Morgens an seinen Arbeitstisch setzt, und sich vornimmt, ein episches Gedicht
zu machen: das Epos ist vielmehr das instinctive Erzeugnis; eines Volksgeistes."

Man lese das übrige in dem Buche selbst nach; es ist doch sehr erfreulich,
wie auch in dieser Beziehung der Geist des deutschen Volks bei den Franzose»
Wurzel gefaßt. Freilich ist Se. Marc Girardin darin den meisten seiner College»
im Gebiet der Literaturgeschichte überlegen; sein neuestes Werk über Rousseau,
welches die Revue de deux Mondes mittheilt, legt wieder von seiner gründ¬
liche» Kritik und seinem unbefangenen Urtheil ein sehr günstiges Zeugniß ab. —


Reise um die Welt und drei Fahrten der k. britischen Fregatte Herald nach dem nörd¬
lichen Polarmeer zur Aufsuchung Sir John FrcinkliuS in den Jahren
-I8is—Von Berthold Seemann. A Bd., Hannover, Rümvlcr.

Für den Verfasser wäre» die Thatsachen die Hauptsache, die anmuthige
Darstellung nur soweit sie sich mit dem Ernst des Gegenstandes verträgt. „In
frühern Zeiten, da all und jedes sowol für den Verfasser wie für den Leser neu
und fesselnd war, ließ sich mit Leichtigkeit ein unterhaltendes und belehrendes
Buch schreibe». Allein heutzutage vermag ziemlich jeder Schulknabe eine leidlich
genaue Beschreibung der entferntesten Winkel der Erde zu geben, und wenn ein
Reisender mit etwas Neuem einwirken will, so muß er sosehr ins Detail gehen,
daß es dem Geschmack der meiste» Leser nicht immer entspricht, wie großer Vor¬
schub auch der Wissenschaft damit geleistet werden mag." — Das Werk verdient
um so größere Beachtung, da es uns Theile der Welt vergegenwärtigt, die bis¬
her wenigstens noch nicht gründlich durchforscht sind: nämlich der erste Band Süd-
nnd Mittelamerika, der zweite Band die Nordpolgegende», endlich ein Stück von
China. Für jede Art naturhistorischer und politischer Fragen findet sich reich¬
liche Ausbeute. Im zweiten Band wird u. a. auch eine geschichtliche Uebersicht
der fünfjährigen Nachforschungen »ach Sir Joh» Franklin gegeben. — Bei einem
Reisewerk ist Po» einem leitende» Princip, also einer Analyse, nicht die Rede,
die Summe der Einzelnheiten macht den ganzen Werth. Wir glauben also u»ser»
Leser» am besten dnrch die Mittheilung eines einzelnen Fragments den Ton und
die Haltung des Ganzen zu versinnlichen; wir wählen zu diesem Zweck die Be¬
schreibung von Rio Janeiro. —

„Rio Janeiro ist eine unangenehme Stadt und muß, wie die des Sultans,
aus der Ferne betrachtet werden; nur die Entfernung macht den Anblick erfreulich.
Es ist die Stadt der Contraste. Entzückt von der schönen Ansicht kann der Fremde


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 12, 1853, II. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341576_96706/153>, abgerufen am 19.05.2024.