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Die Grenzboten. Jg. 12, 1853, II. Semester. II. Band.

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Nur in einem Punkt müssen wir von ihm abweichen, und dies wird umsomehr
befremden, da es der am häufigsten ausgesprochene und fortwährend wiederkehrende
ist. Der Verfasser legt nämlich mit Recht el" großes Gewicht auf die Rein¬
haltung des Stils, in dieser wie in jeder andern Kunst. Die Individualität
des Stils aber identificirt er mit der Nationalität, und darin liegt ein Irrthum.
Die Einheit eines Kunststils hängt allerdings mit den nationalen Eigenthümlich¬
keiten zusammen, wie überhaupt jede Leistung eines Volks, hauptsächlich ent¬
wickelt sie sich aber in der Einheit der Schule; wo diese einmal unterbrochen ist,
kann sie nicht künstlich wiederhergestellt werden. Alles was wir leisten wird ein
nationales Gepräge haben, denn wir können in der Kunst ebensowenig als im
Leben aus unserer Haut heraus; aber einen praktischen Einfluß wird diese Be¬
trachtung nicht haben. Albrecht Dürer liegt uns ebenso fern, oder noch ferner,
als Rafael und Rubens; wenn wir nach Vorbildern aus der alte" Zeit suchen,
so werden wir nicht nach ihrer Nationalität fragen, sondern nach ihrer Ueber¬
einstimmung mit sich selbst und mit den Gesetzen der Kunst. Ein Kunstwerk will
ans sich selbst beurtheilt sein, uicht durch Vergleichungen mit anderweitigen natio¬
nalen Leistungen. Der Verfasser fühlt das im Grunde auch selbst, denn nachdem
er lange auseinandergesetzt, daß Gallait und die übrigen von ihrem nationalen
Standpunkt recht haben, daß aber der Deutsche ihnen ein eigenes Kunstideal
entgegensetzen müsse, stößt er doch auf die Frage: (S. 36) ,,ob uicht eine Ursache
des geminderten Gallait-Enthusiasmus darin zu finden sei, daß dieses blutige
Schaugericht des patriotischen Virtuosen uicht allein gegen deutsche Kuustgruud-
sätze, sondern auch gegen den gesunden Geschmack verstößt." -- Warum nicht
mit dieser Frage, die doch zunächst liegt, und die sich einfacher lösen läßt, als
die sehr verwickelte Untersuchung, ob etwas national ist oder nicht, beginnen,
anstatt zuerst einen Umweg zu machen, der doch zu keinem bestimmten Ziel führt? --
Jeder handle nach seinem künstlerischen Gewissen, dann wird sich schon ein
nationaler Stil finden; ihn aber als solchen suchen, ist verlorene Mühe.




Jede neue aus dem Nordpvlarmeere kommende Nachricht macht das
Auffinden des nun schon seit sechs Jahren vermißten Nvrdpolreisenden,
Sir John Franklin, unwahrscheinlicher. Der neueste Ankömmling aus jenen
unwirthlichen Meeren ist Commandeur Jnglefield vom Schiffe Phönix, der
Depeschen von Sir E. Belcher, Capitain Kellet und M'Clure überbringt,
und wenigstens den Besorgnissen über das Schicksal der den Vermißten auf¬
suchenden Schisse und namentlich des Jnvestigator, Capitain M'Clure, von dem


Nur in einem Punkt müssen wir von ihm abweichen, und dies wird umsomehr
befremden, da es der am häufigsten ausgesprochene und fortwährend wiederkehrende
ist. Der Verfasser legt nämlich mit Recht el» großes Gewicht auf die Rein¬
haltung des Stils, in dieser wie in jeder andern Kunst. Die Individualität
des Stils aber identificirt er mit der Nationalität, und darin liegt ein Irrthum.
Die Einheit eines Kunststils hängt allerdings mit den nationalen Eigenthümlich¬
keiten zusammen, wie überhaupt jede Leistung eines Volks, hauptsächlich ent¬
wickelt sie sich aber in der Einheit der Schule; wo diese einmal unterbrochen ist,
kann sie nicht künstlich wiederhergestellt werden. Alles was wir leisten wird ein
nationales Gepräge haben, denn wir können in der Kunst ebensowenig als im
Leben aus unserer Haut heraus; aber einen praktischen Einfluß wird diese Be¬
trachtung nicht haben. Albrecht Dürer liegt uns ebenso fern, oder noch ferner,
als Rafael und Rubens; wenn wir nach Vorbildern aus der alte» Zeit suchen,
so werden wir nicht nach ihrer Nationalität fragen, sondern nach ihrer Ueber¬
einstimmung mit sich selbst und mit den Gesetzen der Kunst. Ein Kunstwerk will
ans sich selbst beurtheilt sein, uicht durch Vergleichungen mit anderweitigen natio¬
nalen Leistungen. Der Verfasser fühlt das im Grunde auch selbst, denn nachdem
er lange auseinandergesetzt, daß Gallait und die übrigen von ihrem nationalen
Standpunkt recht haben, daß aber der Deutsche ihnen ein eigenes Kunstideal
entgegensetzen müsse, stößt er doch auf die Frage: (S. 36) ,,ob uicht eine Ursache
des geminderten Gallait-Enthusiasmus darin zu finden sei, daß dieses blutige
Schaugericht des patriotischen Virtuosen uicht allein gegen deutsche Kuustgruud-
sätze, sondern auch gegen den gesunden Geschmack verstößt." — Warum nicht
mit dieser Frage, die doch zunächst liegt, und die sich einfacher lösen läßt, als
die sehr verwickelte Untersuchung, ob etwas national ist oder nicht, beginnen,
anstatt zuerst einen Umweg zu machen, der doch zu keinem bestimmten Ziel führt? —
Jeder handle nach seinem künstlerischen Gewissen, dann wird sich schon ein
nationaler Stil finden; ihn aber als solchen suchen, ist verlorene Mühe.




Jede neue aus dem Nordpvlarmeere kommende Nachricht macht das
Auffinden des nun schon seit sechs Jahren vermißten Nvrdpolreisenden,
Sir John Franklin, unwahrscheinlicher. Der neueste Ankömmling aus jenen
unwirthlichen Meeren ist Commandeur Jnglefield vom Schiffe Phönix, der
Depeschen von Sir E. Belcher, Capitain Kellet und M'Clure überbringt,
und wenigstens den Besorgnissen über das Schicksal der den Vermißten auf¬
suchenden Schisse und namentlich des Jnvestigator, Capitain M'Clure, von dem


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[0229] Nur in einem Punkt müssen wir von ihm abweichen, und dies wird umsomehr befremden, da es der am häufigsten ausgesprochene und fortwährend wiederkehrende ist. Der Verfasser legt nämlich mit Recht el» großes Gewicht auf die Rein¬ haltung des Stils, in dieser wie in jeder andern Kunst. Die Individualität des Stils aber identificirt er mit der Nationalität, und darin liegt ein Irrthum. Die Einheit eines Kunststils hängt allerdings mit den nationalen Eigenthümlich¬ keiten zusammen, wie überhaupt jede Leistung eines Volks, hauptsächlich ent¬ wickelt sie sich aber in der Einheit der Schule; wo diese einmal unterbrochen ist, kann sie nicht künstlich wiederhergestellt werden. Alles was wir leisten wird ein nationales Gepräge haben, denn wir können in der Kunst ebensowenig als im Leben aus unserer Haut heraus; aber einen praktischen Einfluß wird diese Be¬ trachtung nicht haben. Albrecht Dürer liegt uns ebenso fern, oder noch ferner, als Rafael und Rubens; wenn wir nach Vorbildern aus der alte» Zeit suchen, so werden wir nicht nach ihrer Nationalität fragen, sondern nach ihrer Ueber¬ einstimmung mit sich selbst und mit den Gesetzen der Kunst. Ein Kunstwerk will ans sich selbst beurtheilt sein, uicht durch Vergleichungen mit anderweitigen natio¬ nalen Leistungen. Der Verfasser fühlt das im Grunde auch selbst, denn nachdem er lange auseinandergesetzt, daß Gallait und die übrigen von ihrem nationalen Standpunkt recht haben, daß aber der Deutsche ihnen ein eigenes Kunstideal entgegensetzen müsse, stößt er doch auf die Frage: (S. 36) ,,ob uicht eine Ursache des geminderten Gallait-Enthusiasmus darin zu finden sei, daß dieses blutige Schaugericht des patriotischen Virtuosen uicht allein gegen deutsche Kuustgruud- sätze, sondern auch gegen den gesunden Geschmack verstößt." — Warum nicht mit dieser Frage, die doch zunächst liegt, und die sich einfacher lösen läßt, als die sehr verwickelte Untersuchung, ob etwas national ist oder nicht, beginnen, anstatt zuerst einen Umweg zu machen, der doch zu keinem bestimmten Ziel führt? — Jeder handle nach seinem künstlerischen Gewissen, dann wird sich schon ein nationaler Stil finden; ihn aber als solchen suchen, ist verlorene Mühe. Jede neue aus dem Nordpvlarmeere kommende Nachricht macht das Auffinden des nun schon seit sechs Jahren vermißten Nvrdpolreisenden, Sir John Franklin, unwahrscheinlicher. Der neueste Ankömmling aus jenen unwirthlichen Meeren ist Commandeur Jnglefield vom Schiffe Phönix, der Depeschen von Sir E. Belcher, Capitain Kellet und M'Clure überbringt, und wenigstens den Besorgnissen über das Schicksal der den Vermißten auf¬ suchenden Schisse und namentlich des Jnvestigator, Capitain M'Clure, von dem

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 12, 1853, II. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341576_96706/229>, abgerufen am 19.05.2024.