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Die Grenzboten. Jg. 12, 1853, II. Semester. II. Band.

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hart an dem Sperrsitze stehende Kapellmeister sich fast ausschließlich um die In¬
strumentalmusik kümmert. Die Ouvertüre wird -- auch wo sie existirt und sonst
in hohen Ehren steht, wie z. B. zum Barbier von Sevilla, i" der Regel ganz
weggelassen; man wird sogleich in das Stück versetzt -- eine dem Deutschen we¬
nig zusagende Sitte!

Soll ich Ihnen noch eine Beschreibung dieser grenzenlosen, an Verrücktheit
grenzenden Beifallsbezeugungen machen, dieser wüthenden Bravos, dieses ewigen
bi8, dis, dieses Heransrufeus, dieses Kränzewerfcus, dieser kostspieligen Monstre-
bouquetö, die eine Sängerin todten konnten, wenn sie der "Cnstvde", der das
Amt hat, die im Laufe des Benefiztages bei der Kasse eingelaufenen und Abends
daselbst paraäs aufgestellten Hnldigungsbcweise im dritten oder vierten Acte
nach der Hauptscene der betreffenden Sängerin aus der ProsceninmSloge des
vierten Stocks herabzuschleudern, nicht mit Geschick zu werfen verstände. -- Das
muß man selber sehen, um sich zu unsern ruhigen Theaterzuständen zurückzusehnen.




W o es e n b e r i es t.
Neuigkeiten der auswärtigen Literatur.

-- Wir haben häufig
Gelegenheit, bei der auswärtigen Literatur zu beobachten, wie sie eine Phase durchmacht,
die bei uns gewissermaßen schon abgethan ist, wie sie aber eben deshalb, wenn sie zu
unserer Kenntniß kommt, den Eindruck von etwas Neuem hervorbringt. Bei der eng-
lischen und französischen Literatur, mit denen wir in täglich fortlaufender Verbindung stehen,
liegt diese Beobachtung auf der Hand, aber auch bei den übrigen Völkern werden wir
darauf aufmerksam, wenn ihre neuen Versuche uus durch das Medium der Engländer
oder Franzosen überliefert werden. So ist z, B. die neue spanische Literatur uns fast
ganz unbekannt und nur von Zeit zu Zeit, wenn irgend ein französischer Kritiker uns
darauf hinweist, bemerken wir, daß die Regungen des deutscheu Geistes, mittelbar oder
auch unmittelbar, sich dort gleichfalls vernehmlich machen. Welches Aufsehen machten
vor einigen Jahren die neukathvlischen Ideen des kürzlich verstorbenen Donoso Cortes,
Marquis von ValdcgamaS! Und doch hatten wir dieselbe längst viel besser, gedanken¬
voller und selbst bequemer von unserm Schlegel u. s. w. gehört. Neuerdings hat die
französische Kritik einen spanischen Philosophen entdeckt, der uns noch näher steht, und
dessen Beziehung zu unserer eigenen Philosophie viel deutlicher in die Augen springt. Herr
Blanche-Raffin hat die Schriften des catalonischen Priesters Don Ja'i'me Balmes
ins Französische übersetzt und mit einer biographischen Einleitung versehen. Balmes war
1810 geboren und starb im Juli 18i8 an der Schwindsucht. Er ist ein Symptom
von der Reaction gegen den Liberalismus, der zwar nicht in den Thatsachen, aber in
der Bewegung der Gedanken seit der Napoleonischen Periode auch in Spanien vor¬
herrschte. Er begann im Jahre 1840 mit einer Schrift über die Einziehung der geist¬
lichen Güter, gegen die er sich sehr lebhaft erklärte, nicht aus eigentlich klerikalen Mo¬
tiven, sondern weil sie dem Geist der Nation zuwider sei. Sein Standpunkt war also
ein reflcctirtcr, er schöpfte nicht unmittelbar aus seinem eigenen Bewußtsein, sondern


hart an dem Sperrsitze stehende Kapellmeister sich fast ausschließlich um die In¬
strumentalmusik kümmert. Die Ouvertüre wird — auch wo sie existirt und sonst
in hohen Ehren steht, wie z. B. zum Barbier von Sevilla, i» der Regel ganz
weggelassen; man wird sogleich in das Stück versetzt — eine dem Deutschen we¬
nig zusagende Sitte!

Soll ich Ihnen noch eine Beschreibung dieser grenzenlosen, an Verrücktheit
grenzenden Beifallsbezeugungen machen, dieser wüthenden Bravos, dieses ewigen
bi8, dis, dieses Heransrufeus, dieses Kränzewerfcus, dieser kostspieligen Monstre-
bouquetö, die eine Sängerin todten konnten, wenn sie der „Cnstvde", der das
Amt hat, die im Laufe des Benefiztages bei der Kasse eingelaufenen und Abends
daselbst paraäs aufgestellten Hnldigungsbcweise im dritten oder vierten Acte
nach der Hauptscene der betreffenden Sängerin aus der ProsceninmSloge des
vierten Stocks herabzuschleudern, nicht mit Geschick zu werfen verstände. — Das
muß man selber sehen, um sich zu unsern ruhigen Theaterzuständen zurückzusehnen.




W o es e n b e r i es t.
Neuigkeiten der auswärtigen Literatur.

— Wir haben häufig
Gelegenheit, bei der auswärtigen Literatur zu beobachten, wie sie eine Phase durchmacht,
die bei uns gewissermaßen schon abgethan ist, wie sie aber eben deshalb, wenn sie zu
unserer Kenntniß kommt, den Eindruck von etwas Neuem hervorbringt. Bei der eng-
lischen und französischen Literatur, mit denen wir in täglich fortlaufender Verbindung stehen,
liegt diese Beobachtung auf der Hand, aber auch bei den übrigen Völkern werden wir
darauf aufmerksam, wenn ihre neuen Versuche uus durch das Medium der Engländer
oder Franzosen überliefert werden. So ist z, B. die neue spanische Literatur uns fast
ganz unbekannt und nur von Zeit zu Zeit, wenn irgend ein französischer Kritiker uns
darauf hinweist, bemerken wir, daß die Regungen des deutscheu Geistes, mittelbar oder
auch unmittelbar, sich dort gleichfalls vernehmlich machen. Welches Aufsehen machten
vor einigen Jahren die neukathvlischen Ideen des kürzlich verstorbenen Donoso Cortes,
Marquis von ValdcgamaS! Und doch hatten wir dieselbe längst viel besser, gedanken¬
voller und selbst bequemer von unserm Schlegel u. s. w. gehört. Neuerdings hat die
französische Kritik einen spanischen Philosophen entdeckt, der uns noch näher steht, und
dessen Beziehung zu unserer eigenen Philosophie viel deutlicher in die Augen springt. Herr
Blanche-Raffin hat die Schriften des catalonischen Priesters Don Ja'i'me Balmes
ins Französische übersetzt und mit einer biographischen Einleitung versehen. Balmes war
1810 geboren und starb im Juli 18i8 an der Schwindsucht. Er ist ein Symptom
von der Reaction gegen den Liberalismus, der zwar nicht in den Thatsachen, aber in
der Bewegung der Gedanken seit der Napoleonischen Periode auch in Spanien vor¬
herrschte. Er begann im Jahre 1840 mit einer Schrift über die Einziehung der geist¬
lichen Güter, gegen die er sich sehr lebhaft erklärte, nicht aus eigentlich klerikalen Mo¬
tiven, sondern weil sie dem Geist der Nation zuwider sei. Sein Standpunkt war also
ein reflcctirtcr, er schöpfte nicht unmittelbar aus seinem eigenen Bewußtsein, sondern


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 12, 1853, II. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341576_96706/325>, abgerufen am 19.05.2024.