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Die Grenzboten. Jg. 12, 1853, II. Semester. II. Band.

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Deutsche Geschichtschreiber"
2.
Heinrich Leo.

ES ist unzweifelhaft ein großer Gewinn für unsere Entwickelung, daß die
Männer der Wissenschaft sich nicht mehr ausschließlich in ihre speciellen Studien
vertiefen und theilnahmlos auf den Gang der Gegenwart herabblicken; aber für
die wissenschaftliche Haltung ist dieser unmittelbare, ununterbrochene und gereizte
Antheil ein den augenblicklichen Bestrebungen der Zeit nicht immer ein Gewinn.
Bei keinem unserer Gelehrten tritt der nachtheilige Einfluß dieser Befangenheit
in den Zeitinteressen so deutlich hervor, als bei Leo. Seit dem Anfang der
dreißiger Jahre hat er unausgesetzt an dem Kampfe gegen die Revolution "ut
das liberale Princip überhaupt, Theil genommen. Er ist durch Gegenangriffe
vielfach gereizt worden und bei der Leidenschaftlichkeit seiner Natur, die durch
kein ästhetisches oder sittliches Maß einen Halt gewinnt, hat er sich in den
häßlichsten Schmuz persönlicher Zänkereien herabziehen lassen. Man kann ihn das
erkant, rerriblo der Reaction nennen, denn keiner unter den Wortführern dieser
Partei bietet den Gegnern soviel Blößen, keiner ist in seinen Angriffen so un¬
besonnen und so herausfordernd: und doch müssen wir den Ton dieser Streitig¬
keiten lebhaft bedauern, denn nur selten sind seine Behauptungen ohne allen
Inhalt. In der Regel liegt ein ganz richtiges und wahres Motiv zu Grunde,
das nur durch die Hitze des Gefechtes in eine falsche Bahn gelenkt und durch
den Cynismus der Form ungenießbar gemacht wird. So entstand noch vor ganz
kurzer Zeit im gesammten. Publicum eine große Aufregung, als Leo seinen Ver¬
druß darüber aussprach, daß es infolge der orientalischen Frage nicht zum
Kriege käme, weil er gehofft hätte, daß durch einen Krieg das "scrophulöse Gesindel,
welches einem ehrlichen Menschen die Lebensluft einengte" und "die Canaille des
materiellen Interesses" von der Erde werde vertilgt werden. Die Form dieses
frommen Wunsches war so cynisch als möglich und fand ihre allein richtige


, Grenzboten, IV. 18S3. 51
Deutsche Geschichtschreiber«
2.
Heinrich Leo.

ES ist unzweifelhaft ein großer Gewinn für unsere Entwickelung, daß die
Männer der Wissenschaft sich nicht mehr ausschließlich in ihre speciellen Studien
vertiefen und theilnahmlos auf den Gang der Gegenwart herabblicken; aber für
die wissenschaftliche Haltung ist dieser unmittelbare, ununterbrochene und gereizte
Antheil ein den augenblicklichen Bestrebungen der Zeit nicht immer ein Gewinn.
Bei keinem unserer Gelehrten tritt der nachtheilige Einfluß dieser Befangenheit
in den Zeitinteressen so deutlich hervor, als bei Leo. Seit dem Anfang der
dreißiger Jahre hat er unausgesetzt an dem Kampfe gegen die Revolution »ut
das liberale Princip überhaupt, Theil genommen. Er ist durch Gegenangriffe
vielfach gereizt worden und bei der Leidenschaftlichkeit seiner Natur, die durch
kein ästhetisches oder sittliches Maß einen Halt gewinnt, hat er sich in den
häßlichsten Schmuz persönlicher Zänkereien herabziehen lassen. Man kann ihn das
erkant, rerriblo der Reaction nennen, denn keiner unter den Wortführern dieser
Partei bietet den Gegnern soviel Blößen, keiner ist in seinen Angriffen so un¬
besonnen und so herausfordernd: und doch müssen wir den Ton dieser Streitig¬
keiten lebhaft bedauern, denn nur selten sind seine Behauptungen ohne allen
Inhalt. In der Regel liegt ein ganz richtiges und wahres Motiv zu Grunde,
das nur durch die Hitze des Gefechtes in eine falsche Bahn gelenkt und durch
den Cynismus der Form ungenießbar gemacht wird. So entstand noch vor ganz
kurzer Zeit im gesammten. Publicum eine große Aufregung, als Leo seinen Ver¬
druß darüber aussprach, daß es infolge der orientalischen Frage nicht zum
Kriege käme, weil er gehofft hätte, daß durch einen Krieg das „scrophulöse Gesindel,
welches einem ehrlichen Menschen die Lebensluft einengte" und „die Canaille des
materiellen Interesses" von der Erde werde vertilgt werden. Die Form dieses
frommen Wunsches war so cynisch als möglich und fand ihre allein richtige


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[0409] Deutsche Geschichtschreiber« 2. Heinrich Leo. ES ist unzweifelhaft ein großer Gewinn für unsere Entwickelung, daß die Männer der Wissenschaft sich nicht mehr ausschließlich in ihre speciellen Studien vertiefen und theilnahmlos auf den Gang der Gegenwart herabblicken; aber für die wissenschaftliche Haltung ist dieser unmittelbare, ununterbrochene und gereizte Antheil ein den augenblicklichen Bestrebungen der Zeit nicht immer ein Gewinn. Bei keinem unserer Gelehrten tritt der nachtheilige Einfluß dieser Befangenheit in den Zeitinteressen so deutlich hervor, als bei Leo. Seit dem Anfang der dreißiger Jahre hat er unausgesetzt an dem Kampfe gegen die Revolution »ut das liberale Princip überhaupt, Theil genommen. Er ist durch Gegenangriffe vielfach gereizt worden und bei der Leidenschaftlichkeit seiner Natur, die durch kein ästhetisches oder sittliches Maß einen Halt gewinnt, hat er sich in den häßlichsten Schmuz persönlicher Zänkereien herabziehen lassen. Man kann ihn das erkant, rerriblo der Reaction nennen, denn keiner unter den Wortführern dieser Partei bietet den Gegnern soviel Blößen, keiner ist in seinen Angriffen so un¬ besonnen und so herausfordernd: und doch müssen wir den Ton dieser Streitig¬ keiten lebhaft bedauern, denn nur selten sind seine Behauptungen ohne allen Inhalt. In der Regel liegt ein ganz richtiges und wahres Motiv zu Grunde, das nur durch die Hitze des Gefechtes in eine falsche Bahn gelenkt und durch den Cynismus der Form ungenießbar gemacht wird. So entstand noch vor ganz kurzer Zeit im gesammten. Publicum eine große Aufregung, als Leo seinen Ver¬ druß darüber aussprach, daß es infolge der orientalischen Frage nicht zum Kriege käme, weil er gehofft hätte, daß durch einen Krieg das „scrophulöse Gesindel, welches einem ehrlichen Menschen die Lebensluft einengte" und „die Canaille des materiellen Interesses" von der Erde werde vertilgt werden. Die Form dieses frommen Wunsches war so cynisch als möglich und fand ihre allein richtige , Grenzboten, IV. 18S3. 51

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 12, 1853, II. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341576_96706/409>, abgerufen am 19.05.2024.