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Die Grenzboten. Jg. 12, 1853, II. Semester. II. Band.

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Deutsche Geschichtschreiber.
i.
Die Welsen und Ghibellinen.

Unter allen Zweigen der prosaischen Literatur hat die Geschichtschreibung den
größten und unmittelbarsten Einfluß auf die Bildung des Volks, mehr als die
Philosophie. Denn diese wendet sich, schon weil sie eine größere Sammlung
und Abstraction des Gedankens verlangt, zunächst nur an einen auserwählten
Kreis, und die Masse empfängt ihre Einwirkungen erst ans zweiter Hand, wobei
es immer zweifelhaft bleibt, ob diese Einwirkungen dem ursprünglichen Geist
der Philosophie entsprechen. Die "reinen" Gedanken, mit denen sich die Philo¬
sophie beschäftigt, erhalten ihre wahre Bedeutung erst durch die Anwendung auf
das concrete Leben, und da würde der tiefste Denker zuweilen über den ver¬
borgenen Inhalt seiner eigenen Gedanken erstaunen. Die Metamorphosen der
Hegelschen Philosophie, als sie Gemeingut des Volkes wurde, sind in dieser
Beziehung höchst charakteristisch. Der Geschichtschreiber dagegen, wenn er das
Talent besitzt, gut zu erzählen, wenn er durch kräftiges Anpochen an das Thor
der Phantasie die Seele zur Aufmerksamkeit zwingt, schmeichelt seine Gedanken
unmittelbar und augenblicklich ein, und da er sich stets mit lebendigen, realen
Gegenständen beschäftigt, so kann man über den Sinn und die Anwendung
derselben keinen Zweifel hegen. Was aber von der Philosophie gilt, muß noch
mehr von der Geschichtschreibung behauptet werden: so paradox ihre Ansichten
auf den ersten Anblick erscheinen, sie entsprechen doch stets einer allgemeinen
Regung des Gewissens, sie geben einer Gefühls- oder Verstandesrichtung, die
bereits anßer ihnen vorhanden ist, den bestimmten Ausdruck, und damit den
Muth, sich als etwas Berechtigtes zu begreifen. In dieser Beziehung ist die
deutsche Geschichtschreibung, namentlich seit den Zeiten der Julirevolution, sehr
lehrreich, denn erst diese gab den Gegensätzen ein bestimmteres Verhältniß zu¬
einander.


Grenzbote". IV, 18Ü3, -II
Deutsche Geschichtschreiber.
i.
Die Welsen und Ghibellinen.

Unter allen Zweigen der prosaischen Literatur hat die Geschichtschreibung den
größten und unmittelbarsten Einfluß auf die Bildung des Volks, mehr als die
Philosophie. Denn diese wendet sich, schon weil sie eine größere Sammlung
und Abstraction des Gedankens verlangt, zunächst nur an einen auserwählten
Kreis, und die Masse empfängt ihre Einwirkungen erst ans zweiter Hand, wobei
es immer zweifelhaft bleibt, ob diese Einwirkungen dem ursprünglichen Geist
der Philosophie entsprechen. Die „reinen" Gedanken, mit denen sich die Philo¬
sophie beschäftigt, erhalten ihre wahre Bedeutung erst durch die Anwendung auf
das concrete Leben, und da würde der tiefste Denker zuweilen über den ver¬
borgenen Inhalt seiner eigenen Gedanken erstaunen. Die Metamorphosen der
Hegelschen Philosophie, als sie Gemeingut des Volkes wurde, sind in dieser
Beziehung höchst charakteristisch. Der Geschichtschreiber dagegen, wenn er das
Talent besitzt, gut zu erzählen, wenn er durch kräftiges Anpochen an das Thor
der Phantasie die Seele zur Aufmerksamkeit zwingt, schmeichelt seine Gedanken
unmittelbar und augenblicklich ein, und da er sich stets mit lebendigen, realen
Gegenständen beschäftigt, so kann man über den Sinn und die Anwendung
derselben keinen Zweifel hegen. Was aber von der Philosophie gilt, muß noch
mehr von der Geschichtschreibung behauptet werden: so paradox ihre Ansichten
auf den ersten Anblick erscheinen, sie entsprechen doch stets einer allgemeinen
Regung des Gewissens, sie geben einer Gefühls- oder Verstandesrichtung, die
bereits anßer ihnen vorhanden ist, den bestimmten Ausdruck, und damit den
Muth, sich als etwas Berechtigtes zu begreifen. In dieser Beziehung ist die
deutsche Geschichtschreibung, namentlich seit den Zeiten der Julirevolution, sehr
lehrreich, denn erst diese gab den Gegensätzen ein bestimmteres Verhältniß zu¬
einander.


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[0089] Deutsche Geschichtschreiber. i. Die Welsen und Ghibellinen. Unter allen Zweigen der prosaischen Literatur hat die Geschichtschreibung den größten und unmittelbarsten Einfluß auf die Bildung des Volks, mehr als die Philosophie. Denn diese wendet sich, schon weil sie eine größere Sammlung und Abstraction des Gedankens verlangt, zunächst nur an einen auserwählten Kreis, und die Masse empfängt ihre Einwirkungen erst ans zweiter Hand, wobei es immer zweifelhaft bleibt, ob diese Einwirkungen dem ursprünglichen Geist der Philosophie entsprechen. Die „reinen" Gedanken, mit denen sich die Philo¬ sophie beschäftigt, erhalten ihre wahre Bedeutung erst durch die Anwendung auf das concrete Leben, und da würde der tiefste Denker zuweilen über den ver¬ borgenen Inhalt seiner eigenen Gedanken erstaunen. Die Metamorphosen der Hegelschen Philosophie, als sie Gemeingut des Volkes wurde, sind in dieser Beziehung höchst charakteristisch. Der Geschichtschreiber dagegen, wenn er das Talent besitzt, gut zu erzählen, wenn er durch kräftiges Anpochen an das Thor der Phantasie die Seele zur Aufmerksamkeit zwingt, schmeichelt seine Gedanken unmittelbar und augenblicklich ein, und da er sich stets mit lebendigen, realen Gegenständen beschäftigt, so kann man über den Sinn und die Anwendung derselben keinen Zweifel hegen. Was aber von der Philosophie gilt, muß noch mehr von der Geschichtschreibung behauptet werden: so paradox ihre Ansichten auf den ersten Anblick erscheinen, sie entsprechen doch stets einer allgemeinen Regung des Gewissens, sie geben einer Gefühls- oder Verstandesrichtung, die bereits anßer ihnen vorhanden ist, den bestimmten Ausdruck, und damit den Muth, sich als etwas Berechtigtes zu begreifen. In dieser Beziehung ist die deutsche Geschichtschreibung, namentlich seit den Zeiten der Julirevolution, sehr lehrreich, denn erst diese gab den Gegensätzen ein bestimmteres Verhältniß zu¬ einander. Grenzbote». IV, 18Ü3, -II

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 12, 1853, II. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341576_96706/89>, abgerufen am 19.05.2024.