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Die Grenzboten. Jg. 13, 1854, II. Semester. III. Band.

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Pariser Briefs)

--Gestern stand ganz Paris an den Straßenecken, die aus Boulogne
datirte Proclamation des Kaisers zu lesen. Die Schweigsamkeit Louis Napo¬
leons bewirkt, daß man jedem seiner Worte Gewicht beilegt. Was für große
Worte um 10,000 Mann! Freilich bedeuten diese 10,000 den Anfang des
eigentlichen Krieges, sie sind das Pfand, das Schweden verlangt hat, um
einen activen Antheil zu nehmen. Eine Macht zweiten Ranges könnte sonst
leicht im Friedensschluß umgangen oder hintergangen werden.

Die Zeit ist in jeder Beziehung ernst. Die Natur will auch kein müßiger
Zuschauer sein, während die menschlichen Leidenschaften entfesselt gegen-
einanderschlagen. Frühling und Sommer werden aus unsrem Budget gestrichen.
Die Sonne wird durch den Regen, der Mai durch den September entsetzt --
überall Zwist und Hader. Zur Sorge um unser Brot tritt die Angst vor dem
argen Gaste aus dem Orient, der schon so oft mit Nußland im Bunde gestan¬
den hat. Es fehlt uns blos die Resignation, welche dem Menschen sich bei¬
gesellt, sowie große, statistisch zu berechnende Leiden ihn heimsuchen. Paris
ist nicht weniger heiter, nicht weniger arbeitsam, nicht frömmer und nicht böser
geworden, es ist blos geduldiger. Diese deutsche Tugend hat es sattsam in
der Schule von Meister Napoleon gelernt. Die Provinzen schicken uns ihr
jährliches Contingent zu und das Ausland bedenkt uns wie gewöhnlich mit
neugierigen Touristen, die bei Tortoni erfahren, wie gut Wiener Eis sei, in
der großen Oper, daß man in Berlin besser singt und die nach einigen Be¬
kanntschaften in Mabille und Chateaurouge Monographien über die Pariser
Frauen schreiben. Die Boulevards sind belebt wie sonst, die kleine Börse
treibt vor der Passage de lOpera ihr großes Unwesen fort, die Theater spielen
schlechte Stücke, als ob es wirklich Sommer wäre und wessen Beutel es er¬
laubt, der geht ins Bad, um draußen nach Paris zu seufzen. Wenn man
ereignißreiche Zeiten wie die gegenwärtigen nachher in irgend einem Geschicht¬
werke wieder nachliest und erstaunt die Summe von welthistorischen Begeben¬
heiten sieht, die an uns vorübergegangen sind, will man gar nicht begreifen,
daß sich doch alles so fortlebte wie in der thatlahmsten Zeit spießbürgerlicher
,v> . > "
Behäbigkeit.

Shakespeare hat seine Helden gut von der Energie reden lassen, welche der
Krieg in die träge Welt wirft. Das hört sich interessant an, aber wenn wir
uns jetzt umschauen, wir finden überall dieselben WerkeltagSgesichter, wir hören
dieselben spießbürgerlichen Anschauungen feilbieten wie in der gewöhnlichsten
Zeit. Es ist wie mit dem Tischrücken -- kein Mensch sühlt oder gibt zu,



Verspätet.
28*
Pariser Briefs)

--Gestern stand ganz Paris an den Straßenecken, die aus Boulogne
datirte Proclamation des Kaisers zu lesen. Die Schweigsamkeit Louis Napo¬
leons bewirkt, daß man jedem seiner Worte Gewicht beilegt. Was für große
Worte um 10,000 Mann! Freilich bedeuten diese 10,000 den Anfang des
eigentlichen Krieges, sie sind das Pfand, das Schweden verlangt hat, um
einen activen Antheil zu nehmen. Eine Macht zweiten Ranges könnte sonst
leicht im Friedensschluß umgangen oder hintergangen werden.

Die Zeit ist in jeder Beziehung ernst. Die Natur will auch kein müßiger
Zuschauer sein, während die menschlichen Leidenschaften entfesselt gegen-
einanderschlagen. Frühling und Sommer werden aus unsrem Budget gestrichen.
Die Sonne wird durch den Regen, der Mai durch den September entsetzt —
überall Zwist und Hader. Zur Sorge um unser Brot tritt die Angst vor dem
argen Gaste aus dem Orient, der schon so oft mit Nußland im Bunde gestan¬
den hat. Es fehlt uns blos die Resignation, welche dem Menschen sich bei¬
gesellt, sowie große, statistisch zu berechnende Leiden ihn heimsuchen. Paris
ist nicht weniger heiter, nicht weniger arbeitsam, nicht frömmer und nicht böser
geworden, es ist blos geduldiger. Diese deutsche Tugend hat es sattsam in
der Schule von Meister Napoleon gelernt. Die Provinzen schicken uns ihr
jährliches Contingent zu und das Ausland bedenkt uns wie gewöhnlich mit
neugierigen Touristen, die bei Tortoni erfahren, wie gut Wiener Eis sei, in
der großen Oper, daß man in Berlin besser singt und die nach einigen Be¬
kanntschaften in Mabille und Chateaurouge Monographien über die Pariser
Frauen schreiben. Die Boulevards sind belebt wie sonst, die kleine Börse
treibt vor der Passage de lOpera ihr großes Unwesen fort, die Theater spielen
schlechte Stücke, als ob es wirklich Sommer wäre und wessen Beutel es er¬
laubt, der geht ins Bad, um draußen nach Paris zu seufzen. Wenn man
ereignißreiche Zeiten wie die gegenwärtigen nachher in irgend einem Geschicht¬
werke wieder nachliest und erstaunt die Summe von welthistorischen Begeben¬
heiten sieht, die an uns vorübergegangen sind, will man gar nicht begreifen,
daß sich doch alles so fortlebte wie in der thatlahmsten Zeit spießbürgerlicher
,v> . > «
Behäbigkeit.

Shakespeare hat seine Helden gut von der Energie reden lassen, welche der
Krieg in die träge Welt wirft. Das hört sich interessant an, aber wenn wir
uns jetzt umschauen, wir finden überall dieselben WerkeltagSgesichter, wir hören
dieselben spießbürgerlichen Anschauungen feilbieten wie in der gewöhnlichsten
Zeit. Es ist wie mit dem Tischrücken — kein Mensch sühlt oder gibt zu,



Verspätet.
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[0227] Pariser Briefs) --Gestern stand ganz Paris an den Straßenecken, die aus Boulogne datirte Proclamation des Kaisers zu lesen. Die Schweigsamkeit Louis Napo¬ leons bewirkt, daß man jedem seiner Worte Gewicht beilegt. Was für große Worte um 10,000 Mann! Freilich bedeuten diese 10,000 den Anfang des eigentlichen Krieges, sie sind das Pfand, das Schweden verlangt hat, um einen activen Antheil zu nehmen. Eine Macht zweiten Ranges könnte sonst leicht im Friedensschluß umgangen oder hintergangen werden. Die Zeit ist in jeder Beziehung ernst. Die Natur will auch kein müßiger Zuschauer sein, während die menschlichen Leidenschaften entfesselt gegen- einanderschlagen. Frühling und Sommer werden aus unsrem Budget gestrichen. Die Sonne wird durch den Regen, der Mai durch den September entsetzt — überall Zwist und Hader. Zur Sorge um unser Brot tritt die Angst vor dem argen Gaste aus dem Orient, der schon so oft mit Nußland im Bunde gestan¬ den hat. Es fehlt uns blos die Resignation, welche dem Menschen sich bei¬ gesellt, sowie große, statistisch zu berechnende Leiden ihn heimsuchen. Paris ist nicht weniger heiter, nicht weniger arbeitsam, nicht frömmer und nicht böser geworden, es ist blos geduldiger. Diese deutsche Tugend hat es sattsam in der Schule von Meister Napoleon gelernt. Die Provinzen schicken uns ihr jährliches Contingent zu und das Ausland bedenkt uns wie gewöhnlich mit neugierigen Touristen, die bei Tortoni erfahren, wie gut Wiener Eis sei, in der großen Oper, daß man in Berlin besser singt und die nach einigen Be¬ kanntschaften in Mabille und Chateaurouge Monographien über die Pariser Frauen schreiben. Die Boulevards sind belebt wie sonst, die kleine Börse treibt vor der Passage de lOpera ihr großes Unwesen fort, die Theater spielen schlechte Stücke, als ob es wirklich Sommer wäre und wessen Beutel es er¬ laubt, der geht ins Bad, um draußen nach Paris zu seufzen. Wenn man ereignißreiche Zeiten wie die gegenwärtigen nachher in irgend einem Geschicht¬ werke wieder nachliest und erstaunt die Summe von welthistorischen Begeben¬ heiten sieht, die an uns vorübergegangen sind, will man gar nicht begreifen, daß sich doch alles so fortlebte wie in der thatlahmsten Zeit spießbürgerlicher ,v> . > « Behäbigkeit. Shakespeare hat seine Helden gut von der Energie reden lassen, welche der Krieg in die träge Welt wirft. Das hört sich interessant an, aber wenn wir uns jetzt umschauen, wir finden überall dieselben WerkeltagSgesichter, wir hören dieselben spießbürgerlichen Anschauungen feilbieten wie in der gewöhnlichsten Zeit. Es ist wie mit dem Tischrücken — kein Mensch sühlt oder gibt zu, Verspätet. 28*

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 13, 1854, II. Semester. III. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341578_281149/227>, abgerufen am 06.05.2024.