Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 13, 1854, II. Semester. III. Band.

Bild:
<< vorherige Seite

den Erfindungen seiner früheren Periode nicht zu sehr zurückzubleiben. Wir
sind erst im zweiten Bande und doch haben wir bereits von Kaiser Karl V.
die erstaunlichsten Thatsachen gehört, wir haben ihn in der Fülle seiner Macht
beobachtet und ihn dann ins Kloster Se. Just begleitet, wo er gestorben ist.
Wir sind nun voller Erwartung, was der berühmte Romanschreiber für neue
Entdeckungen aus dem LebeU Philipps II. machen wird, das dunkel genug
ist, um einer fruchtbaren Einbildungskraft den Spielraum zu den alleruner-
hörtesten Erfindungen zu geben. --


Alice Wentworth. Aus dem Englischen von I. Ziethen. Bd. 1. 2. 3.
Leipzig, Kollmann. --

Der Roman ist nicht ohne Interesse. Er ist einfach componirt, gut er¬
zählt und zeichnet die Charaktere wenigstens soweit deutlich ab, als wir es
zum Verständniß der Handlung bedürfen. Eine Eigenschaft haben sie mit den
meisten neueren englischen Romanen gemein, die raffinirte Selbstquälerei im
Conflict der Pflichten und Empfindungen. Zwei der Anlage nach ganz vor¬
treffliche Naturen, die einander lieben und auch ganz dazu bestimmt sind, ein¬
ander glücklich zu machen, gehen zu verschiedenen Malen auseinander, und
endigen zuletzt in hohlem, unbefriedigten Dasein, weil sie im entscheidenden
Augenblick nicht die Entschlossenheit besitzen, den Knoten, der nicht aufzulösen
war, zu zerhauen. Zum Theil liegt dieser Eindruck in der Absicht der Ver¬
fasserin (denn wir setzen voraus, daß wir es mit einer Dame zu thun haben)
und es ist ganz löblich, darauf hinzuweisen, daß die vielbeliebte Gutmüthig¬
keit in allen ernsten Fällen des Lebens nicht ausreicht, wenn nicht Energie
des Charakters dazu kommt. Zum Theil aber ist es auch der Ausdruck einer
gewissen pessimistischen Stimmung, die wir aus unsrer Literatur gern weg"
wünschen möchten. Mit einer unermüdlichen Ausdauer stellen uns die Roman¬
schreiber in fortwährenden Variationen dar, wie sich die Menschen thöricht
benehmen. Das ist an sich ganz lobenswert!), denn um den wahren Sir"
des Lebens zu begreifen, muß man auch die Kehrseite desselben ins Auge
fassen. Aber es wäre nun höchst ersprießlich und dankbar, wenn ein Dichte
sich einmal die umgekehrte Aufgabe stellen, wenn er uns zeigen wollte, w>c
man sich in ernsten, bedenklichen Fällen tüchtig und verständig benimmt. D"'
Nutzen würde bei weitem ein größerer sein, und der unmittelbare Zweck des
Romans, das Amüsement des Publicums, würde auch nicht darunter leiden;
denn Bilder von Menschen, die uns ärgern und unzufrieden machen, haben
wir, Gott sei Dank, in überreichen Maß. Um so dankbarer würden wir für
jedes Bild sein, an dem unser Herz sich erfreuen und erwärmen könnte. ^
Uebrigens verdient der sittliche Ernst in der Haltung des Ganzen alles Lob.


den Erfindungen seiner früheren Periode nicht zu sehr zurückzubleiben. Wir
sind erst im zweiten Bande und doch haben wir bereits von Kaiser Karl V.
die erstaunlichsten Thatsachen gehört, wir haben ihn in der Fülle seiner Macht
beobachtet und ihn dann ins Kloster Se. Just begleitet, wo er gestorben ist.
Wir sind nun voller Erwartung, was der berühmte Romanschreiber für neue
Entdeckungen aus dem LebeU Philipps II. machen wird, das dunkel genug
ist, um einer fruchtbaren Einbildungskraft den Spielraum zu den alleruner-
hörtesten Erfindungen zu geben. —


Alice Wentworth. Aus dem Englischen von I. Ziethen. Bd. 1. 2. 3.
Leipzig, Kollmann. —

Der Roman ist nicht ohne Interesse. Er ist einfach componirt, gut er¬
zählt und zeichnet die Charaktere wenigstens soweit deutlich ab, als wir es
zum Verständniß der Handlung bedürfen. Eine Eigenschaft haben sie mit den
meisten neueren englischen Romanen gemein, die raffinirte Selbstquälerei im
Conflict der Pflichten und Empfindungen. Zwei der Anlage nach ganz vor¬
treffliche Naturen, die einander lieben und auch ganz dazu bestimmt sind, ein¬
ander glücklich zu machen, gehen zu verschiedenen Malen auseinander, und
endigen zuletzt in hohlem, unbefriedigten Dasein, weil sie im entscheidenden
Augenblick nicht die Entschlossenheit besitzen, den Knoten, der nicht aufzulösen
war, zu zerhauen. Zum Theil liegt dieser Eindruck in der Absicht der Ver¬
fasserin (denn wir setzen voraus, daß wir es mit einer Dame zu thun haben)
und es ist ganz löblich, darauf hinzuweisen, daß die vielbeliebte Gutmüthig¬
keit in allen ernsten Fällen des Lebens nicht ausreicht, wenn nicht Energie
des Charakters dazu kommt. Zum Theil aber ist es auch der Ausdruck einer
gewissen pessimistischen Stimmung, die wir aus unsrer Literatur gern weg"
wünschen möchten. Mit einer unermüdlichen Ausdauer stellen uns die Roman¬
schreiber in fortwährenden Variationen dar, wie sich die Menschen thöricht
benehmen. Das ist an sich ganz lobenswert!), denn um den wahren Sir«
des Lebens zu begreifen, muß man auch die Kehrseite desselben ins Auge
fassen. Aber es wäre nun höchst ersprießlich und dankbar, wenn ein Dichte
sich einmal die umgekehrte Aufgabe stellen, wenn er uns zeigen wollte, w>c
man sich in ernsten, bedenklichen Fällen tüchtig und verständig benimmt. D"'
Nutzen würde bei weitem ein größerer sein, und der unmittelbare Zweck des
Romans, das Amüsement des Publicums, würde auch nicht darunter leiden;
denn Bilder von Menschen, die uns ärgern und unzufrieden machen, haben
wir, Gott sei Dank, in überreichen Maß. Um so dankbarer würden wir für
jedes Bild sein, an dem unser Herz sich erfreuen und erwärmen könnte. ^
Uebrigens verdient der sittliche Ernst in der Haltung des Ganzen alles Lob.


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <div n="2">
            <pb facs="#f0348" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/281499"/>
            <p xml:id="ID_1044" prev="#ID_1043"> den Erfindungen seiner früheren Periode nicht zu sehr zurückzubleiben. Wir<lb/>
sind erst im zweiten Bande und doch haben wir bereits von Kaiser Karl V.<lb/>
die erstaunlichsten Thatsachen gehört, wir haben ihn in der Fülle seiner Macht<lb/>
beobachtet und ihn dann ins Kloster Se. Just begleitet, wo er gestorben ist.<lb/>
Wir sind nun voller Erwartung, was der berühmte Romanschreiber für neue<lb/>
Entdeckungen aus dem LebeU Philipps II. machen wird, das dunkel genug<lb/>
ist, um einer fruchtbaren Einbildungskraft den Spielraum zu den alleruner-<lb/>
hörtesten Erfindungen zu geben. &#x2014;</p><lb/>
          </div>
          <div n="2">
            <head> Alice Wentworth.  Aus dem Englischen von I. Ziethen.  Bd. 1. 2. 3.<lb/>
Leipzig, Kollmann. &#x2014;</head><lb/>
            <p xml:id="ID_1045"> Der Roman ist nicht ohne Interesse. Er ist einfach componirt, gut er¬<lb/>
zählt und zeichnet die Charaktere wenigstens soweit deutlich ab, als wir es<lb/>
zum Verständniß der Handlung bedürfen. Eine Eigenschaft haben sie mit den<lb/>
meisten neueren englischen Romanen gemein, die raffinirte Selbstquälerei im<lb/>
Conflict der Pflichten und Empfindungen. Zwei der Anlage nach ganz vor¬<lb/>
treffliche Naturen, die einander lieben und auch ganz dazu bestimmt sind, ein¬<lb/>
ander glücklich zu machen, gehen zu verschiedenen Malen auseinander, und<lb/>
endigen zuletzt in hohlem, unbefriedigten Dasein, weil sie im entscheidenden<lb/>
Augenblick nicht die Entschlossenheit besitzen, den Knoten, der nicht aufzulösen<lb/>
war, zu zerhauen. Zum Theil liegt dieser Eindruck in der Absicht der Ver¬<lb/>
fasserin (denn wir setzen voraus, daß wir es mit einer Dame zu thun haben)<lb/>
und es ist ganz löblich, darauf hinzuweisen, daß die vielbeliebte Gutmüthig¬<lb/>
keit in allen ernsten Fällen des Lebens nicht ausreicht, wenn nicht Energie<lb/>
des Charakters dazu kommt. Zum Theil aber ist es auch der Ausdruck einer<lb/>
gewissen pessimistischen Stimmung, die wir aus unsrer Literatur gern weg"<lb/>
wünschen möchten. Mit einer unermüdlichen Ausdauer stellen uns die Roman¬<lb/>
schreiber in fortwährenden Variationen dar, wie sich die Menschen thöricht<lb/>
benehmen. Das ist an sich ganz lobenswert!), denn um den wahren Sir«<lb/>
des Lebens zu begreifen, muß man auch die Kehrseite desselben ins Auge<lb/>
fassen. Aber es wäre nun höchst ersprießlich und dankbar, wenn ein Dichte<lb/>
sich einmal die umgekehrte Aufgabe stellen, wenn er uns zeigen wollte, w&gt;c<lb/>
man sich in ernsten, bedenklichen Fällen tüchtig und verständig benimmt. D"'<lb/>
Nutzen würde bei weitem ein größerer sein, und der unmittelbare Zweck des<lb/>
Romans, das Amüsement des Publicums, würde auch nicht darunter leiden;<lb/>
denn Bilder von Menschen, die uns ärgern und unzufrieden machen, haben<lb/>
wir, Gott sei Dank, in überreichen Maß. Um so dankbarer würden wir für<lb/>
jedes Bild sein, an dem unser Herz sich erfreuen und erwärmen könnte. ^<lb/>
Uebrigens verdient der sittliche Ernst in der Haltung des Ganzen alles Lob.</p><lb/>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0348] den Erfindungen seiner früheren Periode nicht zu sehr zurückzubleiben. Wir sind erst im zweiten Bande und doch haben wir bereits von Kaiser Karl V. die erstaunlichsten Thatsachen gehört, wir haben ihn in der Fülle seiner Macht beobachtet und ihn dann ins Kloster Se. Just begleitet, wo er gestorben ist. Wir sind nun voller Erwartung, was der berühmte Romanschreiber für neue Entdeckungen aus dem LebeU Philipps II. machen wird, das dunkel genug ist, um einer fruchtbaren Einbildungskraft den Spielraum zu den alleruner- hörtesten Erfindungen zu geben. — Alice Wentworth. Aus dem Englischen von I. Ziethen. Bd. 1. 2. 3. Leipzig, Kollmann. — Der Roman ist nicht ohne Interesse. Er ist einfach componirt, gut er¬ zählt und zeichnet die Charaktere wenigstens soweit deutlich ab, als wir es zum Verständniß der Handlung bedürfen. Eine Eigenschaft haben sie mit den meisten neueren englischen Romanen gemein, die raffinirte Selbstquälerei im Conflict der Pflichten und Empfindungen. Zwei der Anlage nach ganz vor¬ treffliche Naturen, die einander lieben und auch ganz dazu bestimmt sind, ein¬ ander glücklich zu machen, gehen zu verschiedenen Malen auseinander, und endigen zuletzt in hohlem, unbefriedigten Dasein, weil sie im entscheidenden Augenblick nicht die Entschlossenheit besitzen, den Knoten, der nicht aufzulösen war, zu zerhauen. Zum Theil liegt dieser Eindruck in der Absicht der Ver¬ fasserin (denn wir setzen voraus, daß wir es mit einer Dame zu thun haben) und es ist ganz löblich, darauf hinzuweisen, daß die vielbeliebte Gutmüthig¬ keit in allen ernsten Fällen des Lebens nicht ausreicht, wenn nicht Energie des Charakters dazu kommt. Zum Theil aber ist es auch der Ausdruck einer gewissen pessimistischen Stimmung, die wir aus unsrer Literatur gern weg" wünschen möchten. Mit einer unermüdlichen Ausdauer stellen uns die Roman¬ schreiber in fortwährenden Variationen dar, wie sich die Menschen thöricht benehmen. Das ist an sich ganz lobenswert!), denn um den wahren Sir« des Lebens zu begreifen, muß man auch die Kehrseite desselben ins Auge fassen. Aber es wäre nun höchst ersprießlich und dankbar, wenn ein Dichte sich einmal die umgekehrte Aufgabe stellen, wenn er uns zeigen wollte, w>c man sich in ernsten, bedenklichen Fällen tüchtig und verständig benimmt. D"' Nutzen würde bei weitem ein größerer sein, und der unmittelbare Zweck des Romans, das Amüsement des Publicums, würde auch nicht darunter leiden; denn Bilder von Menschen, die uns ärgern und unzufrieden machen, haben wir, Gott sei Dank, in überreichen Maß. Um so dankbarer würden wir für jedes Bild sein, an dem unser Herz sich erfreuen und erwärmen könnte. ^ Uebrigens verdient der sittliche Ernst in der Haltung des Ganzen alles Lob.

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341578_281149
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341578_281149/348
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 13, 1854, II. Semester. III. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341578_281149/348>, abgerufen am 06.05.2024.