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Die Grenzboten. Jg. 13, 1854, II. Semester. III. Band.

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Wochenbericht.
Politische Tagesliteratur.

-- In dem neusten Hefte der Revue des
deux Mondes (1. Juni) verdient ein Artikel von Eugene Forcade über die Stellung
Oestreichs in der orientalischen Frage die Aufmerksamkeit des deutscheu Publicums.
Per Verfasser sucht nachzuweisen, daß Oestreich im Laufe der großen Krisis mit
ebenso besonnener Mäßigung als mit nachhaltiger Kraft des Entschlusses alles ge¬
than hat, was seine Tradition nudnvas seine Interessen ihm an die Hand gaben.
Er zeigt, wie in der Krisis von 1828 Oestreich allein es war, das die Stellung
Rußlands zum europäischen Gleichgewicht klar durchschaute und daß nur die Ver¬
blendung der Westmächte es abhielt, schon damals durch ein entscheidendes Wort
dem Vordringen Rußlands Widerstand zu leisten. Er zeigt, daß die Interessen
Oestreichs in der Gegenwart noch genau dieselben sind, daß es sich eigentlich be¬
rufen fühlen müßte, Europa in dem Kampfe gegen die russische Uebermacht voran¬
zugehen, daß aber in der Zeit die Traditionen seiner Staatsmänner sich wesentlich
geändert haben und daß daraus ein natürlicher Conflict zwischen den Interessen
und Traditionen hervorging, der das scheinbare Zögern der östreichischen Politik
begreiflich machte. Denn damals hatte Rußland mit einer zwar nicht une'igen-
nützigcn, aber doch sehr eingreifenden Hilfe dem östreichischen Staate in der schwersten
Krisis zur Seite gestanden, während die englische Regierung alles daran setzte, den
Erfolgen Oestreichs überall in den Weg zu treten. Abgesehen von den materiellen
Nachtheilen, die Oestreich daraus erwuchsen, mußte die Art und Weise, wie das
englische Volk nicht ohne heimliche Connivenz seiner Regierung seine Sympathien
für die ungarische Sache laut werden ließ, die Gefühle der östreichischen Staats¬
männer ans das tiefste verletzen. So fand sich Oestreich beim Ausbruch der neusten
Krisis in einer sehr schwierigen Lage. Auf der einen Seite stand sein bewährtester
Alliirtcr, auf der andern seine erklärten Gegner, die Türken und die Engländer,
mit denen es zur Zeit der ungarischen Erhebung sast zu einem ernsten Conflict
gekommen wäre; und so schien durch seine Erinnerungen seine Parteinahme voraus-
bestimmt zu sein, während doch die ruhige Ueberlegung seiner Interessen seiner
Politik eine ganz andere Richtung geben mußte. Der Verfasser führt nun aus,
wie der Kaiser von Oestreich zunächst alles gethan hat, was Pietät und
Pflichtgefühl ihm eingaben, um seine Verbindlichkeiten gegen Nußland auf eine
ehrenvolle Weise abzulösen, wie er daun aber keinen Augenblick Anstand genommen
hat, in dem Conflict seiner persönlichen Empfindungen mit den Ueberzeugungen
seines Verstandes die letztern entscheiden zu lassen. Er zeigt, daß Oestreich in
seiner Weise, wenn auch nur indirect, ebenso bestimmt und energisch gegen Nu߬
land vorgeschritten ist, als England und Frankreich, und daß der.Unterschied ihrer
Bewegungen nur in der Verschiedenheit ihrer geographischen Lage beruht; denn es
kam in diesem Kampfe nicht daraus an, gleichzeitig Erklciruugcu zu erlassen, was
das ganze Gewicht der russischen Macht auf das ihm zunächst liegende Oestreich
abgeleitet haben würde, sondern so. gerüstet zu sein, daß man gleichzeitig aus dem
Platze der Entscheidung ankommen könne: In dieser Lage befindet sich Oestreich
noch jetzt; es kann, wenn es sein letztes Wort ausspricht, bei den Rüstungen und


Wochenbericht.
Politische Tagesliteratur.

— In dem neusten Hefte der Revue des
deux Mondes (1. Juni) verdient ein Artikel von Eugene Forcade über die Stellung
Oestreichs in der orientalischen Frage die Aufmerksamkeit des deutscheu Publicums.
Per Verfasser sucht nachzuweisen, daß Oestreich im Laufe der großen Krisis mit
ebenso besonnener Mäßigung als mit nachhaltiger Kraft des Entschlusses alles ge¬
than hat, was seine Tradition nudnvas seine Interessen ihm an die Hand gaben.
Er zeigt, wie in der Krisis von 1828 Oestreich allein es war, das die Stellung
Rußlands zum europäischen Gleichgewicht klar durchschaute und daß nur die Ver¬
blendung der Westmächte es abhielt, schon damals durch ein entscheidendes Wort
dem Vordringen Rußlands Widerstand zu leisten. Er zeigt, daß die Interessen
Oestreichs in der Gegenwart noch genau dieselben sind, daß es sich eigentlich be¬
rufen fühlen müßte, Europa in dem Kampfe gegen die russische Uebermacht voran¬
zugehen, daß aber in der Zeit die Traditionen seiner Staatsmänner sich wesentlich
geändert haben und daß daraus ein natürlicher Conflict zwischen den Interessen
und Traditionen hervorging, der das scheinbare Zögern der östreichischen Politik
begreiflich machte. Denn damals hatte Rußland mit einer zwar nicht une'igen-
nützigcn, aber doch sehr eingreifenden Hilfe dem östreichischen Staate in der schwersten
Krisis zur Seite gestanden, während die englische Regierung alles daran setzte, den
Erfolgen Oestreichs überall in den Weg zu treten. Abgesehen von den materiellen
Nachtheilen, die Oestreich daraus erwuchsen, mußte die Art und Weise, wie das
englische Volk nicht ohne heimliche Connivenz seiner Regierung seine Sympathien
für die ungarische Sache laut werden ließ, die Gefühle der östreichischen Staats¬
männer ans das tiefste verletzen. So fand sich Oestreich beim Ausbruch der neusten
Krisis in einer sehr schwierigen Lage. Auf der einen Seite stand sein bewährtester
Alliirtcr, auf der andern seine erklärten Gegner, die Türken und die Engländer,
mit denen es zur Zeit der ungarischen Erhebung sast zu einem ernsten Conflict
gekommen wäre; und so schien durch seine Erinnerungen seine Parteinahme voraus-
bestimmt zu sein, während doch die ruhige Ueberlegung seiner Interessen seiner
Politik eine ganz andere Richtung geben mußte. Der Verfasser führt nun aus,
wie der Kaiser von Oestreich zunächst alles gethan hat, was Pietät und
Pflichtgefühl ihm eingaben, um seine Verbindlichkeiten gegen Nußland auf eine
ehrenvolle Weise abzulösen, wie er daun aber keinen Augenblick Anstand genommen
hat, in dem Conflict seiner persönlichen Empfindungen mit den Ueberzeugungen
seines Verstandes die letztern entscheiden zu lassen. Er zeigt, daß Oestreich in
seiner Weise, wenn auch nur indirect, ebenso bestimmt und energisch gegen Nu߬
land vorgeschritten ist, als England und Frankreich, und daß der.Unterschied ihrer
Bewegungen nur in der Verschiedenheit ihrer geographischen Lage beruht; denn es
kam in diesem Kampfe nicht daraus an, gleichzeitig Erklciruugcu zu erlassen, was
das ganze Gewicht der russischen Macht auf das ihm zunächst liegende Oestreich
abgeleitet haben würde, sondern so. gerüstet zu sein, daß man gleichzeitig aus dem
Platze der Entscheidung ankommen könne: In dieser Lage befindet sich Oestreich
noch jetzt; es kann, wenn es sein letztes Wort ausspricht, bei den Rüstungen und


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 13, 1854, II. Semester. III. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341578_281149/42>, abgerufen am 06.05.2024.