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Die Grenzboten. Jg. 13, 1854, II. Semester. III. Band.

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Seschen, als es noch geschehen konnte! WalTrscheinlich wäre dann der Judenheit
das Christenthum erspart worden." -- Diese rationalistische Zersetzung historischer
Kräfte ist dem Sinn der Geschichte"entgegen, -- Uebrigens ist in dem Buch
viel Material zusammengedrängt und wir werden bei der Fortsetzung noch ein¬
mal darauf zurückkommen. --


Der Einfluß der herrschenden I d c er des -19. Jahrhunderts a n f d en Staat.
Von Baron Joseph Evtvvö. Ans dem Ungarischen. 2 Theile.
Leipzig, Brockhaus. -- ,

Wir haben es hier mit einem sehr bedeutenden Buche zu thun, das in
dem weiten.und umfassenden Gewebe seiner Dialektik zwar manche Schlu߬
folgerungen enthält, denen wir nicht beipflichten können, oder bei denen uns
die Beziehung wenigstens zweifelhaft erscheint, das aber überall voller Gehalt
ist und uns durch die neuen Wendungen, die eS bekannten und häufig aus¬
gesprochenen Ideen gibt, zu fruchtbarem Nachdenken anregt. Der Verfasser ist
ein feiner Kopf; scharfsinnig in der Zerspaltung der Begriffe, erfinderisch in
der Combination auseinanderliegender Vorstellungen. Er hat ferner die po¬
litischen Idee" nicht blos mit dem Verstände aufgefaßt, sondern sich überall
eine lebendige Anschauung zu bilden gesucht. Er ist in der Geschichte zu Hause
wie in der Philosophie. Wenn wir nun trotz dieser inhaltreichen Gedanken¬
verknüpfungen die letzten Fäden der Ideen aus den Händen verlieren, so liegt
der Grund vielleicht zum Theil darin, daß der Geist des Verfassers mehr Fein¬
heit als Energie hat. Sein ganzes Streben ist gegen die Herrschaft der Ab-
straction gerichtet, und zum Schluß sieht es doch so aus, als wenn er sich
wieder in das Reich der Abstraction flüchten wollte. Es ist das eine Erscheinung,
die nicht allzu selten vorkommt. Ein gebildeter Geist sträubt sich häufig gegen
die Herrschaft der Phrasen und merkt bei der Verallgemeinerung dieses Strebetts
gar nicht, daß auch das Leugnen der Phrase eine Phrase sein kann.

Wir wollen vorher einige Notizen über die Persönlichkeit des Verfassers
geben. Baron Eötvös, geboren 18-13 in Ofen, hatte schon in der Jugend,
nachdem er nur kurze Zeit die juristische Laufbahn versucht, sich der eigentliche"
Literatur gewidmet. Seine historischen Romane und seine Lustspiele waren in
Ungarn mit ebensoviel Beifall aufgenommen worden, als seine politischen
Schriften. Als nun im Jahr -1848 die Kapacitäten ohne Unterschied in das
politische Leben gezogen wurden, erhielt Eötvös das Ministerium des Cultus,
aber er wußte sich in die bewegte Zeit nicht zu finden, gab und fand viel
gegenseitigen Anstoß und verließ das Land noch vor Auflösung des Ministeriums.
Er lebte seitdem als Privatmann in München und gab im Jahr I8L-I den
ersten Band des vorliegenden Werks heraus, sowie die bekannte anch von uns


Seschen, als es noch geschehen konnte! WalTrscheinlich wäre dann der Judenheit
das Christenthum erspart worden." — Diese rationalistische Zersetzung historischer
Kräfte ist dem Sinn der Geschichte»entgegen, — Uebrigens ist in dem Buch
viel Material zusammengedrängt und wir werden bei der Fortsetzung noch ein¬
mal darauf zurückkommen. —


Der Einfluß der herrschenden I d c er des -19. Jahrhunderts a n f d en Staat.
Von Baron Joseph Evtvvö. Ans dem Ungarischen. 2 Theile.
Leipzig, Brockhaus. — ,

Wir haben es hier mit einem sehr bedeutenden Buche zu thun, das in
dem weiten.und umfassenden Gewebe seiner Dialektik zwar manche Schlu߬
folgerungen enthält, denen wir nicht beipflichten können, oder bei denen uns
die Beziehung wenigstens zweifelhaft erscheint, das aber überall voller Gehalt
ist und uns durch die neuen Wendungen, die eS bekannten und häufig aus¬
gesprochenen Ideen gibt, zu fruchtbarem Nachdenken anregt. Der Verfasser ist
ein feiner Kopf; scharfsinnig in der Zerspaltung der Begriffe, erfinderisch in
der Combination auseinanderliegender Vorstellungen. Er hat ferner die po¬
litischen Idee» nicht blos mit dem Verstände aufgefaßt, sondern sich überall
eine lebendige Anschauung zu bilden gesucht. Er ist in der Geschichte zu Hause
wie in der Philosophie. Wenn wir nun trotz dieser inhaltreichen Gedanken¬
verknüpfungen die letzten Fäden der Ideen aus den Händen verlieren, so liegt
der Grund vielleicht zum Theil darin, daß der Geist des Verfassers mehr Fein¬
heit als Energie hat. Sein ganzes Streben ist gegen die Herrschaft der Ab-
straction gerichtet, und zum Schluß sieht es doch so aus, als wenn er sich
wieder in das Reich der Abstraction flüchten wollte. Es ist das eine Erscheinung,
die nicht allzu selten vorkommt. Ein gebildeter Geist sträubt sich häufig gegen
die Herrschaft der Phrasen und merkt bei der Verallgemeinerung dieses Strebetts
gar nicht, daß auch das Leugnen der Phrase eine Phrase sein kann.

Wir wollen vorher einige Notizen über die Persönlichkeit des Verfassers
geben. Baron Eötvös, geboren 18-13 in Ofen, hatte schon in der Jugend,
nachdem er nur kurze Zeit die juristische Laufbahn versucht, sich der eigentliche»
Literatur gewidmet. Seine historischen Romane und seine Lustspiele waren in
Ungarn mit ebensoviel Beifall aufgenommen worden, als seine politischen
Schriften. Als nun im Jahr -1848 die Kapacitäten ohne Unterschied in das
politische Leben gezogen wurden, erhielt Eötvös das Ministerium des Cultus,
aber er wußte sich in die bewegte Zeit nicht zu finden, gab und fand viel
gegenseitigen Anstoß und verließ das Land noch vor Auflösung des Ministeriums.
Er lebte seitdem als Privatmann in München und gab im Jahr I8L-I den
ersten Band des vorliegenden Werks heraus, sowie die bekannte anch von uns


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 13, 1854, II. Semester. III. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341578_281149/428>, abgerufen am 06.05.2024.