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Die Grenzboten. Jg. 13, 1854, II. Semester. II. Band.

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Neue historische Schristen.
Der evangelische Protestantismus in seiner geschichtlichen Entwicklung,
in einer Reihe von Vorlesungen dargestellt von K. Hagenbach, Profes¬
sor in Basel, Zweite durchgesehene Auflage. Leipzig, Hirzel. -1. Thl,:
Vom Augsburger Neligionsfrieden bis zum dreißigjährigen Kriege. --
2. Thl.: Vom dreißigjährigen Kriege bis zum Anfange des 18. Jahr¬
hunderts. --

In dem Anfange der vierziger Jahre, in der Bewegung des philosophischen
Radi.calismus und der Lichtfreunde, schien es fast, als solle sich die erregte
Theilnahme der Laien an den theologischen Händeln, die im siebzehnten Jahr¬
hundert Deutschland in seiner Entwicklung so sehr aufgehalten hat, noch ein¬
mal erneuern. Wir sind sehr damit zufrieden, daß diese Gefahr von unsrer
Bildung abgewandt ist, daß die politische Aufregung die religiöse verdrängt
hat. Es nicht gut für ein Volk, wenn jeder einzelne sich über die Mysterien
deö göttlichen Wesens Gedanken macht, einerlei, ob diese Mysterien in der
Weise des Kaiser Justinian, oder der theologischen Klopffechter aus dem sieb¬
zehnten Jahrhundert oder auch der lichtfreundlichen Pastoren unsrer Tage auf¬
gefaßt werden. Der Protestantismus hebt zwar das Sacrament der Priester¬
weihe auf, aber er führt an Stelle dessen das Amt ein; und wenn auch das
Volk, in geistlichen wie in weltlichen Dingen, auf seine Beamten ein wach¬
sames' Auge haben soll, so darf diese Wachsamkeit doch nicht bis zur unfrucht¬
baren und unerquicklichen Betheiligung an den Einzelheiten gehn, welche die
Thätigkeit der Volkskraft aus ihrer natürlichen Bahn lenken würde. Sobald
die Laien sich über das Gebiet der praktischen Frömmigkeit und des Cultus
hinaus an theologischen Dingen betheiligen, kommt in alle Angelegenheiten
und in die Bildung selbst jene theologische Färbung, die etwas Krankhaftes
und Unnatürliches hat.

Dagegen ist es von der höchsten Wichtigkeit, eine Vermittlung zwischen
der weltlichen Bildung der Gegenwart und dem christlichen Bewußtsein anzu¬
bahnen. Wenn diese beiden Momente einander ignoriren, so tritt eine vor¬
übergehende, fremdartige Bildungsform ein, die wol häufig die schönsten Er¬
scheinungen hervorbringt, wie zu Ende des vorigen Jahrhunderts, die aber
eine unausfüllbare Kluft zwischen Vergangenheit und Zukunft läßt, und die
daher wieder überwunden werden muß, wenn der natürliche Verlauf der Ent¬
wicklung wieder aufgenommen werden soll.

Abgesehen von der unmittelbaren Betheiligung am kirchlichen Leben, das
auch den Gleichgiltigen unsichtbar umgibt und ihn in ein Netz unscheinbarer
und doch werthvoller Beziehungen verstrickt, gibt es kein zweckmäßigeres Mittel,
diese Vermittlung zwischen der Religion und Bildung anzubahnen, als die sihlo-


Neue historische Schristen.
Der evangelische Protestantismus in seiner geschichtlichen Entwicklung,
in einer Reihe von Vorlesungen dargestellt von K. Hagenbach, Profes¬
sor in Basel, Zweite durchgesehene Auflage. Leipzig, Hirzel. -1. Thl,:
Vom Augsburger Neligionsfrieden bis zum dreißigjährigen Kriege. —
2. Thl.: Vom dreißigjährigen Kriege bis zum Anfange des 18. Jahr¬
hunderts. —

In dem Anfange der vierziger Jahre, in der Bewegung des philosophischen
Radi.calismus und der Lichtfreunde, schien es fast, als solle sich die erregte
Theilnahme der Laien an den theologischen Händeln, die im siebzehnten Jahr¬
hundert Deutschland in seiner Entwicklung so sehr aufgehalten hat, noch ein¬
mal erneuern. Wir sind sehr damit zufrieden, daß diese Gefahr von unsrer
Bildung abgewandt ist, daß die politische Aufregung die religiöse verdrängt
hat. Es nicht gut für ein Volk, wenn jeder einzelne sich über die Mysterien
deö göttlichen Wesens Gedanken macht, einerlei, ob diese Mysterien in der
Weise des Kaiser Justinian, oder der theologischen Klopffechter aus dem sieb¬
zehnten Jahrhundert oder auch der lichtfreundlichen Pastoren unsrer Tage auf¬
gefaßt werden. Der Protestantismus hebt zwar das Sacrament der Priester¬
weihe auf, aber er führt an Stelle dessen das Amt ein; und wenn auch das
Volk, in geistlichen wie in weltlichen Dingen, auf seine Beamten ein wach¬
sames' Auge haben soll, so darf diese Wachsamkeit doch nicht bis zur unfrucht¬
baren und unerquicklichen Betheiligung an den Einzelheiten gehn, welche die
Thätigkeit der Volkskraft aus ihrer natürlichen Bahn lenken würde. Sobald
die Laien sich über das Gebiet der praktischen Frömmigkeit und des Cultus
hinaus an theologischen Dingen betheiligen, kommt in alle Angelegenheiten
und in die Bildung selbst jene theologische Färbung, die etwas Krankhaftes
und Unnatürliches hat.

Dagegen ist es von der höchsten Wichtigkeit, eine Vermittlung zwischen
der weltlichen Bildung der Gegenwart und dem christlichen Bewußtsein anzu¬
bahnen. Wenn diese beiden Momente einander ignoriren, so tritt eine vor¬
übergehende, fremdartige Bildungsform ein, die wol häufig die schönsten Er¬
scheinungen hervorbringt, wie zu Ende des vorigen Jahrhunderts, die aber
eine unausfüllbare Kluft zwischen Vergangenheit und Zukunft läßt, und die
daher wieder überwunden werden muß, wenn der natürliche Verlauf der Ent¬
wicklung wieder aufgenommen werden soll.

Abgesehen von der unmittelbaren Betheiligung am kirchlichen Leben, das
auch den Gleichgiltigen unsichtbar umgibt und ihn in ein Netz unscheinbarer
und doch werthvoller Beziehungen verstrickt, gibt es kein zweckmäßigeres Mittel,
diese Vermittlung zwischen der Religion und Bildung anzubahnen, als die sihlo-


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[0116] Neue historische Schristen. Der evangelische Protestantismus in seiner geschichtlichen Entwicklung, in einer Reihe von Vorlesungen dargestellt von K. Hagenbach, Profes¬ sor in Basel, Zweite durchgesehene Auflage. Leipzig, Hirzel. -1. Thl,: Vom Augsburger Neligionsfrieden bis zum dreißigjährigen Kriege. — 2. Thl.: Vom dreißigjährigen Kriege bis zum Anfange des 18. Jahr¬ hunderts. — In dem Anfange der vierziger Jahre, in der Bewegung des philosophischen Radi.calismus und der Lichtfreunde, schien es fast, als solle sich die erregte Theilnahme der Laien an den theologischen Händeln, die im siebzehnten Jahr¬ hundert Deutschland in seiner Entwicklung so sehr aufgehalten hat, noch ein¬ mal erneuern. Wir sind sehr damit zufrieden, daß diese Gefahr von unsrer Bildung abgewandt ist, daß die politische Aufregung die religiöse verdrängt hat. Es nicht gut für ein Volk, wenn jeder einzelne sich über die Mysterien deö göttlichen Wesens Gedanken macht, einerlei, ob diese Mysterien in der Weise des Kaiser Justinian, oder der theologischen Klopffechter aus dem sieb¬ zehnten Jahrhundert oder auch der lichtfreundlichen Pastoren unsrer Tage auf¬ gefaßt werden. Der Protestantismus hebt zwar das Sacrament der Priester¬ weihe auf, aber er führt an Stelle dessen das Amt ein; und wenn auch das Volk, in geistlichen wie in weltlichen Dingen, auf seine Beamten ein wach¬ sames' Auge haben soll, so darf diese Wachsamkeit doch nicht bis zur unfrucht¬ baren und unerquicklichen Betheiligung an den Einzelheiten gehn, welche die Thätigkeit der Volkskraft aus ihrer natürlichen Bahn lenken würde. Sobald die Laien sich über das Gebiet der praktischen Frömmigkeit und des Cultus hinaus an theologischen Dingen betheiligen, kommt in alle Angelegenheiten und in die Bildung selbst jene theologische Färbung, die etwas Krankhaftes und Unnatürliches hat. Dagegen ist es von der höchsten Wichtigkeit, eine Vermittlung zwischen der weltlichen Bildung der Gegenwart und dem christlichen Bewußtsein anzu¬ bahnen. Wenn diese beiden Momente einander ignoriren, so tritt eine vor¬ übergehende, fremdartige Bildungsform ein, die wol häufig die schönsten Er¬ scheinungen hervorbringt, wie zu Ende des vorigen Jahrhunderts, die aber eine unausfüllbare Kluft zwischen Vergangenheit und Zukunft läßt, und die daher wieder überwunden werden muß, wenn der natürliche Verlauf der Ent¬ wicklung wieder aufgenommen werden soll. Abgesehen von der unmittelbaren Betheiligung am kirchlichen Leben, das auch den Gleichgiltigen unsichtbar umgibt und ihn in ein Netz unscheinbarer und doch werthvoller Beziehungen verstrickt, gibt es kein zweckmäßigeres Mittel, diese Vermittlung zwischen der Religion und Bildung anzubahnen, als die sihlo-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 13, 1854, II. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341578_96706/116>, abgerufen am 07.05.2024.