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Die Grenzboten. Jg. 13, 1854, II. Semester. II. Band.

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Neue Romane.
Harte Zeiten. Von Dickens. Ans dem Englischen von Julius Seybt.
Leipzig, Lorck. --

Der neueste Roman von Dickens, der in der Lvrckschen Sammlung den
21. Band ausmacht, gehört nicht eigentlich in die sonstigen Romane des be¬
rühmten Verfassers; er schließt sich mehr an seine Weihnachtsgcschichtcn an.
Die Tendenz ist durchaus überwiegend, die novellistische Behandlung skizzenhaft.

Mit großer Freude haben wir das Werk nicht gelesen. Zwar ist eS an
und für sich kein Unglück, wenn ein Dichter, welcher der Welt so vieles Schöne
und Herrliche geschenkt, auch einmal eine schwächere Leistung zu Markte bringt;
aber einerseits hätten wir sehr gewünscht, daß die Erinnsrung an Bleakhouse,
welcher Roman trotz vieler glänzenden und hochpolitischen Stellen dennoch im
ganzen als ein verfehlter zu bezeichnen war, recht bald durch ein neues, frisches
Werk nach der alten Art verwischt werden möge, sodann fürchten wir, daß die
eigenthümliche Popularität, deren Dickens sich in England erfreut, seinem
Talent eine schiefe Richtung giebt.

Wie jeder echte Dichter, ist auch Dickens ein Kämpfer für das Gute gegen
daS Böse. Die Dichtkunst hat die Aufgabe, uns in dem Guten auch daS
Schöne, in dem Bösen daS Häßliche zu zeigen. Dickens hat diesen Beruf auf
eine glänzendere Weise erfüllt als irgendein Dichter der jüngsten Generation.
Sein reiches und schönes Gemüth hat in den unscheinbarsten Erscheinungen
der menschlichen Güte eine solche Fülle lebensvoller Beziehungen ausgespürt,
daß auch eine verhärtete Seele davon berührt werden muß, und wo das ab¬
solut Schlechte ihm entgegentritt, hat er edlen Zorn genug entwickelt, um auch
weiche Menschen zu überzeugen. Bon dieser Seite werden wir, ganz abgesehen
von seinem wunderbaren Talent, Dickens immer hoch über seine Nebenbuhler
stellen, die, aufgewachsen in der alten Idee, als ob das Aesthetische vom Sitt¬
lichen getrennt werden könne, zuletzt allen Unterschied des Guten und Bösen
aus den Augen verloren haben.


Grenzboten. IV. tLüi- 51
Neue Romane.
Harte Zeiten. Von Dickens. Ans dem Englischen von Julius Seybt.
Leipzig, Lorck. —

Der neueste Roman von Dickens, der in der Lvrckschen Sammlung den
21. Band ausmacht, gehört nicht eigentlich in die sonstigen Romane des be¬
rühmten Verfassers; er schließt sich mehr an seine Weihnachtsgcschichtcn an.
Die Tendenz ist durchaus überwiegend, die novellistische Behandlung skizzenhaft.

Mit großer Freude haben wir das Werk nicht gelesen. Zwar ist eS an
und für sich kein Unglück, wenn ein Dichter, welcher der Welt so vieles Schöne
und Herrliche geschenkt, auch einmal eine schwächere Leistung zu Markte bringt;
aber einerseits hätten wir sehr gewünscht, daß die Erinnsrung an Bleakhouse,
welcher Roman trotz vieler glänzenden und hochpolitischen Stellen dennoch im
ganzen als ein verfehlter zu bezeichnen war, recht bald durch ein neues, frisches
Werk nach der alten Art verwischt werden möge, sodann fürchten wir, daß die
eigenthümliche Popularität, deren Dickens sich in England erfreut, seinem
Talent eine schiefe Richtung giebt.

Wie jeder echte Dichter, ist auch Dickens ein Kämpfer für das Gute gegen
daS Böse. Die Dichtkunst hat die Aufgabe, uns in dem Guten auch daS
Schöne, in dem Bösen daS Häßliche zu zeigen. Dickens hat diesen Beruf auf
eine glänzendere Weise erfüllt als irgendein Dichter der jüngsten Generation.
Sein reiches und schönes Gemüth hat in den unscheinbarsten Erscheinungen
der menschlichen Güte eine solche Fülle lebensvoller Beziehungen ausgespürt,
daß auch eine verhärtete Seele davon berührt werden muß, und wo das ab¬
solut Schlechte ihm entgegentritt, hat er edlen Zorn genug entwickelt, um auch
weiche Menschen zu überzeugen. Bon dieser Seite werden wir, ganz abgesehen
von seinem wunderbaren Talent, Dickens immer hoch über seine Nebenbuhler
stellen, die, aufgewachsen in der alten Idee, als ob das Aesthetische vom Sitt¬
lichen getrennt werden könne, zuletzt allen Unterschied des Guten und Bösen
aus den Augen verloren haben.


Grenzboten. IV. tLüi- 51
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[0409] Neue Romane. Harte Zeiten. Von Dickens. Ans dem Englischen von Julius Seybt. Leipzig, Lorck. — Der neueste Roman von Dickens, der in der Lvrckschen Sammlung den 21. Band ausmacht, gehört nicht eigentlich in die sonstigen Romane des be¬ rühmten Verfassers; er schließt sich mehr an seine Weihnachtsgcschichtcn an. Die Tendenz ist durchaus überwiegend, die novellistische Behandlung skizzenhaft. Mit großer Freude haben wir das Werk nicht gelesen. Zwar ist eS an und für sich kein Unglück, wenn ein Dichter, welcher der Welt so vieles Schöne und Herrliche geschenkt, auch einmal eine schwächere Leistung zu Markte bringt; aber einerseits hätten wir sehr gewünscht, daß die Erinnsrung an Bleakhouse, welcher Roman trotz vieler glänzenden und hochpolitischen Stellen dennoch im ganzen als ein verfehlter zu bezeichnen war, recht bald durch ein neues, frisches Werk nach der alten Art verwischt werden möge, sodann fürchten wir, daß die eigenthümliche Popularität, deren Dickens sich in England erfreut, seinem Talent eine schiefe Richtung giebt. Wie jeder echte Dichter, ist auch Dickens ein Kämpfer für das Gute gegen daS Böse. Die Dichtkunst hat die Aufgabe, uns in dem Guten auch daS Schöne, in dem Bösen daS Häßliche zu zeigen. Dickens hat diesen Beruf auf eine glänzendere Weise erfüllt als irgendein Dichter der jüngsten Generation. Sein reiches und schönes Gemüth hat in den unscheinbarsten Erscheinungen der menschlichen Güte eine solche Fülle lebensvoller Beziehungen ausgespürt, daß auch eine verhärtete Seele davon berührt werden muß, und wo das ab¬ solut Schlechte ihm entgegentritt, hat er edlen Zorn genug entwickelt, um auch weiche Menschen zu überzeugen. Bon dieser Seite werden wir, ganz abgesehen von seinem wunderbaren Talent, Dickens immer hoch über seine Nebenbuhler stellen, die, aufgewachsen in der alten Idee, als ob das Aesthetische vom Sitt¬ lichen getrennt werden könne, zuletzt allen Unterschied des Guten und Bösen aus den Augen verloren haben. Grenzboten. IV. tLüi- 51

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 13, 1854, II. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341578_96706/409>, abgerufen am 06.05.2024.