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Die Grenzboten. Jg. 13, 1854, I. Semester. I. Band.

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Die türkische Gesetzgebung.

Die Ottomanische Gesetzgebung zerfällt in zwei große Abtheilungen: in das
theokratische (religiöse und bürgerliche) Gesetz, Cher'jat, und in dos politische Gesetz,
Kanonn.

Der Kanonn ist die Sanunlnng der Verordnungen Solimans II. über die
Organisation und das Verfahren der Gerichte, die Gebräuche und Gewohnheiten
des kaiserlichen Palastes, das Ceremonie!, die Disciplin und den Dienst der Land-
und Scetrnppen, die Regierung der Pforte und der Provinzen, die politischen
Beziehungen der Osmanli sowol im Innern als nach außen; Verordnungen, die
Mehr oder minder genau von den Nachfolgern Solimans bis auf den Tanzimat
beobachtet wurden, der bestimmt ist, allmälig das alte Verwaltuugssystem in seiner
ganzen Ausdehnung zu ersetzen. Der durch den Hattischcrif von Gulhane einge¬
führte Tanzimat hat seinen Ursprung in demselben Princip als der Kanoun, näm-
lich in dem Rechte des Sultans, die Lücken' des Cher'jat nach seinem Ermessen
zu ergänzen.

Der Cher'jat hat vier durch die Religion geheiligte Quelle": 1) Den Koran,
der mehr oder weniger genaue Bestimmungen über die väterliche Gewalt, die
Testamente , Substitutionen und Contracte enthält. 2) Die Sunna oder die
Habis beziehen sich ans alle Worte, Rathschläge und mündlichen Anordnungen
des Propheten, aus seine Handlungen, Werke, Gewohnheiten, selbst auf sein
Schweigen über gewisse Handlungen, die dadurch gesetzlich geworden sind, wie der
Genuß deS Opiums und das Tabakrauchen. 3) Der Iduna-y-nennet (Ueberein¬
stimmung des Volkes), der die Erklärungen, Glossen und legalen Entscheidungen
der vier ersten Khalifen enthält, -i) Der Kyass (Vergleichung) oder Sammlung
der rechtlichen Entscheidungen, welche von den vier großen Imaus in den drei
ersten Jahrhunderten der Hegira erlassen wurden bis auf die Sammlung der Fetvas
oder Verordnungen des Scheiks-ni-islam.

Nach den vier großen Khalifen oder Imaus beschäftigten sich zahlreiche Rechts--
gelehrte unablässig mit der muselmännischen Gesetzgebung. Aus ihren Arbeiten
entstanden zwei Gesetzbücher. Das erste genannt Durmez, die Perle, wurde
im Jahre 1470 durch den Mokka Kvsrew abgefaßt. Das zweite, das den empha¬
tischen Titel: Multeka-ni-Ubhnr (Zusammenfluß zweier Meere) trägt, ist das
Werk des gelehrten Scheik Ibrahim - Halebi aus Aleppo, der zu Konstantinopel
1549 starb. Ursprünglich arabisch geschrieben und unter den Sultanen Ibrahim 1.
und Muhalned IV. ins Türkische übersetzt, wurde es -I82i auf Befehl der Pforte
umgearbeitet. Es ist eine große Kompilation, die zwei Foliobände füllt, ans den
bereits angeführten Quellen geschöpft ist und nach Inhalt und Form viel Aehn-
lichkeit mit den classischen Sammlungen des römischen Rechts hat.


Grenz boten. I. 18si. , 1 i
Die türkische Gesetzgebung.

Die Ottomanische Gesetzgebung zerfällt in zwei große Abtheilungen: in das
theokratische (religiöse und bürgerliche) Gesetz, Cher'jat, und in dos politische Gesetz,
Kanonn.

Der Kanonn ist die Sanunlnng der Verordnungen Solimans II. über die
Organisation und das Verfahren der Gerichte, die Gebräuche und Gewohnheiten
des kaiserlichen Palastes, das Ceremonie!, die Disciplin und den Dienst der Land-
und Scetrnppen, die Regierung der Pforte und der Provinzen, die politischen
Beziehungen der Osmanli sowol im Innern als nach außen; Verordnungen, die
Mehr oder minder genau von den Nachfolgern Solimans bis auf den Tanzimat
beobachtet wurden, der bestimmt ist, allmälig das alte Verwaltuugssystem in seiner
ganzen Ausdehnung zu ersetzen. Der durch den Hattischcrif von Gulhane einge¬
führte Tanzimat hat seinen Ursprung in demselben Princip als der Kanoun, näm-
lich in dem Rechte des Sultans, die Lücken' des Cher'jat nach seinem Ermessen
zu ergänzen.

Der Cher'jat hat vier durch die Religion geheiligte Quelle«: 1) Den Koran,
der mehr oder weniger genaue Bestimmungen über die väterliche Gewalt, die
Testamente , Substitutionen und Contracte enthält. 2) Die Sunna oder die
Habis beziehen sich ans alle Worte, Rathschläge und mündlichen Anordnungen
des Propheten, aus seine Handlungen, Werke, Gewohnheiten, selbst auf sein
Schweigen über gewisse Handlungen, die dadurch gesetzlich geworden sind, wie der
Genuß deS Opiums und das Tabakrauchen. 3) Der Iduna-y-nennet (Ueberein¬
stimmung des Volkes), der die Erklärungen, Glossen und legalen Entscheidungen
der vier ersten Khalifen enthält, -i) Der Kyass (Vergleichung) oder Sammlung
der rechtlichen Entscheidungen, welche von den vier großen Imaus in den drei
ersten Jahrhunderten der Hegira erlassen wurden bis auf die Sammlung der Fetvas
oder Verordnungen des Scheiks-ni-islam.

Nach den vier großen Khalifen oder Imaus beschäftigten sich zahlreiche Rechts--
gelehrte unablässig mit der muselmännischen Gesetzgebung. Aus ihren Arbeiten
entstanden zwei Gesetzbücher. Das erste genannt Durmez, die Perle, wurde
im Jahre 1470 durch den Mokka Kvsrew abgefaßt. Das zweite, das den empha¬
tischen Titel: Multeka-ni-Ubhnr (Zusammenfluß zweier Meere) trägt, ist das
Werk des gelehrten Scheik Ibrahim - Halebi aus Aleppo, der zu Konstantinopel
1549 starb. Ursprünglich arabisch geschrieben und unter den Sultanen Ibrahim 1.
und Muhalned IV. ins Türkische übersetzt, wurde es -I82i auf Befehl der Pforte
umgearbeitet. Es ist eine große Kompilation, die zwei Foliobände füllt, ans den
bereits angeführten Quellen geschöpft ist und nach Inhalt und Form viel Aehn-
lichkeit mit den classischen Sammlungen des römischen Rechts hat.


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[0113] Die türkische Gesetzgebung. Die Ottomanische Gesetzgebung zerfällt in zwei große Abtheilungen: in das theokratische (religiöse und bürgerliche) Gesetz, Cher'jat, und in dos politische Gesetz, Kanonn. Der Kanonn ist die Sanunlnng der Verordnungen Solimans II. über die Organisation und das Verfahren der Gerichte, die Gebräuche und Gewohnheiten des kaiserlichen Palastes, das Ceremonie!, die Disciplin und den Dienst der Land- und Scetrnppen, die Regierung der Pforte und der Provinzen, die politischen Beziehungen der Osmanli sowol im Innern als nach außen; Verordnungen, die Mehr oder minder genau von den Nachfolgern Solimans bis auf den Tanzimat beobachtet wurden, der bestimmt ist, allmälig das alte Verwaltuugssystem in seiner ganzen Ausdehnung zu ersetzen. Der durch den Hattischcrif von Gulhane einge¬ führte Tanzimat hat seinen Ursprung in demselben Princip als der Kanoun, näm- lich in dem Rechte des Sultans, die Lücken' des Cher'jat nach seinem Ermessen zu ergänzen. Der Cher'jat hat vier durch die Religion geheiligte Quelle«: 1) Den Koran, der mehr oder weniger genaue Bestimmungen über die väterliche Gewalt, die Testamente , Substitutionen und Contracte enthält. 2) Die Sunna oder die Habis beziehen sich ans alle Worte, Rathschläge und mündlichen Anordnungen des Propheten, aus seine Handlungen, Werke, Gewohnheiten, selbst auf sein Schweigen über gewisse Handlungen, die dadurch gesetzlich geworden sind, wie der Genuß deS Opiums und das Tabakrauchen. 3) Der Iduna-y-nennet (Ueberein¬ stimmung des Volkes), der die Erklärungen, Glossen und legalen Entscheidungen der vier ersten Khalifen enthält, -i) Der Kyass (Vergleichung) oder Sammlung der rechtlichen Entscheidungen, welche von den vier großen Imaus in den drei ersten Jahrhunderten der Hegira erlassen wurden bis auf die Sammlung der Fetvas oder Verordnungen des Scheiks-ni-islam. Nach den vier großen Khalifen oder Imaus beschäftigten sich zahlreiche Rechts-- gelehrte unablässig mit der muselmännischen Gesetzgebung. Aus ihren Arbeiten entstanden zwei Gesetzbücher. Das erste genannt Durmez, die Perle, wurde im Jahre 1470 durch den Mokka Kvsrew abgefaßt. Das zweite, das den empha¬ tischen Titel: Multeka-ni-Ubhnr (Zusammenfluß zweier Meere) trägt, ist das Werk des gelehrten Scheik Ibrahim - Halebi aus Aleppo, der zu Konstantinopel 1549 starb. Ursprünglich arabisch geschrieben und unter den Sultanen Ibrahim 1. und Muhalned IV. ins Türkische übersetzt, wurde es -I82i auf Befehl der Pforte umgearbeitet. Es ist eine große Kompilation, die zwei Foliobände füllt, ans den bereits angeführten Quellen geschöpft ist und nach Inhalt und Form viel Aehn- lichkeit mit den classischen Sammlungen des römischen Rechts hat. Grenz boten. I. 18si. , 1 i

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 13, 1854, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341578_97245/113>, abgerufen am 05.05.2024.