Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 13, 1854, I. Semester. II. Band.

Bild:
<< vorherige Seite
Erinnerungen an Kotzebue.
1761. bis 1819.

Vielleicht wird, es manchem unsrer Leser nicht unangenehm sein, von der
Betrachtung der leidigen orientalischen Frage sich einen Augenblick zu erholen.
Wir erlauben uns daher, das Bild eines Dichters aufzustellen, der jetzt all¬
gemein geringgeschätzt und wenig mehr bekannt ist, der aber als charakteristisch
sür eine sehr wichtige Literaturperiode noch immer unsre Aufmerksamkeit
verdient..

Daß ein Dichter, der ein Vierteljahrhundert das deutsche Theater be¬
herrscht und in sämmtlichen europäischen Sprachen als dessen vorzüglichster Re¬
präsentant gefeiert wurde, mit dem Männer wie Wieland, Johann v. Müller,
Schlözer, Jacobi, Ramler, Engel u. a. in den Formen der größten Hochach¬
tung umgingen, nicht ganz ohne Verdienst sein kann, wird nur derjenige be¬
zweifeln, der an Wunder oder an Wirkungen ohne Ursachen glaubt.. Kotzebue
besaß eine Einbildungskraft, die an Lebhaftigkeit wenigstens unter den deut¬
schen Dichtern ihres Gleichen sucht. Bei seiner ungeheuren Fruchtbarkeit hat
er doch im ganzen sehr wenig, von andern entlehnt, gewiß weniger, als die
spätern deutschen Dichter von ihm selbst.

Begebenheiten und Situationen strömten seiner Phantasie in reicher Fülle
zu, und da in seiner Seele nichts vorhanden war, waK der freien Anwendung
derselben irgend einen Widerstand hätten entgegensetzen können, weder Sitte,
.noch Grundsätze, noch Schicklichkeitsgefühl, so überrascht er noch uns selbst mit
der bunten Mannigfaltigkeit seiner Erfindungen. Außerdem hatte er einen sehr
sichern Jnstinct für den Geschmack des Publicums, oder vielmehr seine Natur
war mit der Natur der Menge so verwandt, daß ihm überall die richtigen
Theatermotive zu Gebote standen. In einer seiner Vorreden gibt er höchst
offenherzige Bekenntnisse. Er urtheilt über sich selbst nicht grade mit über¬
triebener Bescheidenheit, aber er fühlt doch sehr bestimmt heraus, was die
Gegner an ihm auszusetzen haben, zum Theil schärfer als diese selbst. Man


Grenzboten. II. ->8til. 41
Erinnerungen an Kotzebue.
1761. bis 1819.

Vielleicht wird, es manchem unsrer Leser nicht unangenehm sein, von der
Betrachtung der leidigen orientalischen Frage sich einen Augenblick zu erholen.
Wir erlauben uns daher, das Bild eines Dichters aufzustellen, der jetzt all¬
gemein geringgeschätzt und wenig mehr bekannt ist, der aber als charakteristisch
sür eine sehr wichtige Literaturperiode noch immer unsre Aufmerksamkeit
verdient..

Daß ein Dichter, der ein Vierteljahrhundert das deutsche Theater be¬
herrscht und in sämmtlichen europäischen Sprachen als dessen vorzüglichster Re¬
präsentant gefeiert wurde, mit dem Männer wie Wieland, Johann v. Müller,
Schlözer, Jacobi, Ramler, Engel u. a. in den Formen der größten Hochach¬
tung umgingen, nicht ganz ohne Verdienst sein kann, wird nur derjenige be¬
zweifeln, der an Wunder oder an Wirkungen ohne Ursachen glaubt.. Kotzebue
besaß eine Einbildungskraft, die an Lebhaftigkeit wenigstens unter den deut¬
schen Dichtern ihres Gleichen sucht. Bei seiner ungeheuren Fruchtbarkeit hat
er doch im ganzen sehr wenig, von andern entlehnt, gewiß weniger, als die
spätern deutschen Dichter von ihm selbst.

Begebenheiten und Situationen strömten seiner Phantasie in reicher Fülle
zu, und da in seiner Seele nichts vorhanden war, waK der freien Anwendung
derselben irgend einen Widerstand hätten entgegensetzen können, weder Sitte,
.noch Grundsätze, noch Schicklichkeitsgefühl, so überrascht er noch uns selbst mit
der bunten Mannigfaltigkeit seiner Erfindungen. Außerdem hatte er einen sehr
sichern Jnstinct für den Geschmack des Publicums, oder vielmehr seine Natur
war mit der Natur der Menge so verwandt, daß ihm überall die richtigen
Theatermotive zu Gebote standen. In einer seiner Vorreden gibt er höchst
offenherzige Bekenntnisse. Er urtheilt über sich selbst nicht grade mit über¬
triebener Bescheidenheit, aber er fühlt doch sehr bestimmt heraus, was die
Gegner an ihm auszusetzen haben, zum Theil schärfer als diese selbst. Man


Grenzboten. II. ->8til. 41
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <div n="2">
            <pb facs="#f0329" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/98109"/>
          </div>
        </div>
        <div n="1">
          <head> Erinnerungen an Kotzebue.<lb/>
1761. bis 1819.</head><lb/>
          <p xml:id="ID_1036"> Vielleicht wird, es manchem unsrer Leser nicht unangenehm sein, von der<lb/>
Betrachtung der leidigen orientalischen Frage sich einen Augenblick zu erholen.<lb/>
Wir erlauben uns daher, das Bild eines Dichters aufzustellen, der jetzt all¬<lb/>
gemein geringgeschätzt und wenig mehr bekannt ist, der aber als charakteristisch<lb/>
sür eine sehr wichtige Literaturperiode noch immer unsre Aufmerksamkeit<lb/>
verdient..</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1037"> Daß ein Dichter, der ein Vierteljahrhundert das deutsche Theater be¬<lb/>
herrscht und in sämmtlichen europäischen Sprachen als dessen vorzüglichster Re¬<lb/>
präsentant gefeiert wurde, mit dem Männer wie Wieland, Johann v. Müller,<lb/>
Schlözer, Jacobi, Ramler, Engel u. a. in den Formen der größten Hochach¬<lb/>
tung umgingen, nicht ganz ohne Verdienst sein kann, wird nur derjenige be¬<lb/>
zweifeln, der an Wunder oder an Wirkungen ohne Ursachen glaubt.. Kotzebue<lb/>
besaß eine Einbildungskraft, die an Lebhaftigkeit wenigstens unter den deut¬<lb/>
schen Dichtern ihres Gleichen sucht. Bei seiner ungeheuren Fruchtbarkeit hat<lb/>
er doch im ganzen sehr wenig, von andern entlehnt, gewiß weniger, als die<lb/>
spätern deutschen Dichter von ihm selbst.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1038" next="#ID_1039"> Begebenheiten und Situationen strömten seiner Phantasie in reicher Fülle<lb/>
zu, und da in seiner Seele nichts vorhanden war, waK der freien Anwendung<lb/>
derselben irgend einen Widerstand hätten entgegensetzen können, weder Sitte,<lb/>
.noch Grundsätze, noch Schicklichkeitsgefühl, so überrascht er noch uns selbst mit<lb/>
der bunten Mannigfaltigkeit seiner Erfindungen. Außerdem hatte er einen sehr<lb/>
sichern Jnstinct für den Geschmack des Publicums, oder vielmehr seine Natur<lb/>
war mit der Natur der Menge so verwandt, daß ihm überall die richtigen<lb/>
Theatermotive zu Gebote standen. In einer seiner Vorreden gibt er höchst<lb/>
offenherzige Bekenntnisse. Er urtheilt über sich selbst nicht grade mit über¬<lb/>
triebener Bescheidenheit, aber er fühlt doch sehr bestimmt heraus, was die<lb/>
Gegner an ihm auszusetzen haben, zum Theil schärfer als diese selbst. Man</p><lb/>
          <fw type="sig" place="bottom"> Grenzboten. II. -&gt;8til. 41</fw><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0329] Erinnerungen an Kotzebue. 1761. bis 1819. Vielleicht wird, es manchem unsrer Leser nicht unangenehm sein, von der Betrachtung der leidigen orientalischen Frage sich einen Augenblick zu erholen. Wir erlauben uns daher, das Bild eines Dichters aufzustellen, der jetzt all¬ gemein geringgeschätzt und wenig mehr bekannt ist, der aber als charakteristisch sür eine sehr wichtige Literaturperiode noch immer unsre Aufmerksamkeit verdient.. Daß ein Dichter, der ein Vierteljahrhundert das deutsche Theater be¬ herrscht und in sämmtlichen europäischen Sprachen als dessen vorzüglichster Re¬ präsentant gefeiert wurde, mit dem Männer wie Wieland, Johann v. Müller, Schlözer, Jacobi, Ramler, Engel u. a. in den Formen der größten Hochach¬ tung umgingen, nicht ganz ohne Verdienst sein kann, wird nur derjenige be¬ zweifeln, der an Wunder oder an Wirkungen ohne Ursachen glaubt.. Kotzebue besaß eine Einbildungskraft, die an Lebhaftigkeit wenigstens unter den deut¬ schen Dichtern ihres Gleichen sucht. Bei seiner ungeheuren Fruchtbarkeit hat er doch im ganzen sehr wenig, von andern entlehnt, gewiß weniger, als die spätern deutschen Dichter von ihm selbst. Begebenheiten und Situationen strömten seiner Phantasie in reicher Fülle zu, und da in seiner Seele nichts vorhanden war, waK der freien Anwendung derselben irgend einen Widerstand hätten entgegensetzen können, weder Sitte, .noch Grundsätze, noch Schicklichkeitsgefühl, so überrascht er noch uns selbst mit der bunten Mannigfaltigkeit seiner Erfindungen. Außerdem hatte er einen sehr sichern Jnstinct für den Geschmack des Publicums, oder vielmehr seine Natur war mit der Natur der Menge so verwandt, daß ihm überall die richtigen Theatermotive zu Gebote standen. In einer seiner Vorreden gibt er höchst offenherzige Bekenntnisse. Er urtheilt über sich selbst nicht grade mit über¬ triebener Bescheidenheit, aber er fühlt doch sehr bestimmt heraus, was die Gegner an ihm auszusetzen haben, zum Theil schärfer als diese selbst. Man Grenzboten. II. ->8til. 41

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341578_97779
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341578_97779/328
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 13, 1854, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341578_97779/328>, abgerufen am 06.05.2024.