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Die Grenzboten. Jg. 13, 1854, I. Semester. II. Band.

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über das darzustellende Zeitalter befragen darf, sondern es macht einzelne
Quellen zum Mittelpunkt der Darstellung und läßt die Beobachtungen, die
eine ziemlich ausgebreitete Belesenheit in den übrigen Quellen verstattet hat, sich
um dieses aus einer einseitigen Anschauung gewonnene Bild gleichsam krystal-
listren. Diese Methode wäre die richtige gewesen, wenn es sich darum ge¬
handelt hätte, das Leben des Hippolyt monographisch darzustellen, und wenn
die vorliegenden Quellen von der Art gewesen wären, daß sie wesentlich aus
sich selbst heraus verstanden werden könnten. Allein Herr Bunsen hatte sich
die Aufgabe gestellt, ein Gesammtbild des UrchristenthumS zu entwerfen, und
er bekennt selbst, daß seine Quelle ihre kritische Stellung und ihr Verständniß
erst aus dem Studium der christlichen Gesammtliteratur der drei ersten Jahr¬
hunderte empfangen kann. So konnte er also nach seiner Methode nur zu
einer Kritik seiner Quelle, aber nicht zu einer historischen Darstellung des Zeit¬
alters kommen; und man hat das Gefühl, daß das Ziel, welches er sich steckt,
zu dem, was er wirklich geleistet, in keinem richtigen Verhältniß steht.

Ein zweiter Uebelstand ist die praktische erbauliche Tendenz des Buches.
Herr Bunsen gehört einer sehr ehrenwerthen Richtung des christlichen Lebens
an, der wir praktisch das größte Gedeihen wünschen, die aber zur eigentlichen
Geschichtschreibung des Christenthums vielleicht am wenigsten berufen sein
möchte. Obgleich sie sich ihrem Inhalt nach der Rechtgläubigkeit nähert und
gegen die anmaßende Einseitigkeit des Rationalismus den entschiedensten Protest
einlegt, so steht sie mit dem letzteren doch insofern auf gleichem Boden, als
ihr ein bestimmtes Ideal des Christenthums vorschwebt, welches mehr aus der
Gesinnung, aus der Mischung moderner und alterthümlicher Bildungsmomente
und aus dem subjectiven Heilsbedürsniß hervorgeht, als aus der unbefangenen
Aufnahme der Geschichte. Dieses Ideal hat einen schönen sittlichen Inhalt
und wehrt auch poetische Erregungen nicht ab; allein einerseits trägt es, ohne
es zu wissen, die Resultate der modernen Bildung und Gesittung, oder um das
bestimmtere, wenn auch etwas verrufene Wort zu gebrauchen, der modernen
Aufklärung in die historischen Studien hinein, andrerseits bemüht es sich, als
eine ruhende, unabänderliche Continuität darzustellen, was doch ein gewaltiger
Entwicklungsproceß ist." Die Weltgeschichte hat ihre Dialektik an keiner Er¬
scheinung so glänzend entfaltet, als am Christenthum, zwar nicht in der ein¬
fachen Hegelschen Methode, wornach jede neuere Bildungsstufe die frühere
verschlang, sondern so, daß die zu verschiedenen Zeiten hervorgegangenen Bil¬
dungstriebe im blühenden Leben noch immer nebeneinander bestehen. Jene Ob¬
jektivität, welche jedermann als die nothwendige Eigenschaft eines Geschicht¬
schreibers zugeben wird, ist bei einer Geschichtschreibung des Christenthums am
schwersten zu erringen, weil hier Vergangenheit und Gegenwart aufs wunder¬
barste in eins verschmelzen, so daß man mit Gewalt die Regung des eignen


über das darzustellende Zeitalter befragen darf, sondern es macht einzelne
Quellen zum Mittelpunkt der Darstellung und läßt die Beobachtungen, die
eine ziemlich ausgebreitete Belesenheit in den übrigen Quellen verstattet hat, sich
um dieses aus einer einseitigen Anschauung gewonnene Bild gleichsam krystal-
listren. Diese Methode wäre die richtige gewesen, wenn es sich darum ge¬
handelt hätte, das Leben des Hippolyt monographisch darzustellen, und wenn
die vorliegenden Quellen von der Art gewesen wären, daß sie wesentlich aus
sich selbst heraus verstanden werden könnten. Allein Herr Bunsen hatte sich
die Aufgabe gestellt, ein Gesammtbild des UrchristenthumS zu entwerfen, und
er bekennt selbst, daß seine Quelle ihre kritische Stellung und ihr Verständniß
erst aus dem Studium der christlichen Gesammtliteratur der drei ersten Jahr¬
hunderte empfangen kann. So konnte er also nach seiner Methode nur zu
einer Kritik seiner Quelle, aber nicht zu einer historischen Darstellung des Zeit¬
alters kommen; und man hat das Gefühl, daß das Ziel, welches er sich steckt,
zu dem, was er wirklich geleistet, in keinem richtigen Verhältniß steht.

Ein zweiter Uebelstand ist die praktische erbauliche Tendenz des Buches.
Herr Bunsen gehört einer sehr ehrenwerthen Richtung des christlichen Lebens
an, der wir praktisch das größte Gedeihen wünschen, die aber zur eigentlichen
Geschichtschreibung des Christenthums vielleicht am wenigsten berufen sein
möchte. Obgleich sie sich ihrem Inhalt nach der Rechtgläubigkeit nähert und
gegen die anmaßende Einseitigkeit des Rationalismus den entschiedensten Protest
einlegt, so steht sie mit dem letzteren doch insofern auf gleichem Boden, als
ihr ein bestimmtes Ideal des Christenthums vorschwebt, welches mehr aus der
Gesinnung, aus der Mischung moderner und alterthümlicher Bildungsmomente
und aus dem subjectiven Heilsbedürsniß hervorgeht, als aus der unbefangenen
Aufnahme der Geschichte. Dieses Ideal hat einen schönen sittlichen Inhalt
und wehrt auch poetische Erregungen nicht ab; allein einerseits trägt es, ohne
es zu wissen, die Resultate der modernen Bildung und Gesittung, oder um das
bestimmtere, wenn auch etwas verrufene Wort zu gebrauchen, der modernen
Aufklärung in die historischen Studien hinein, andrerseits bemüht es sich, als
eine ruhende, unabänderliche Continuität darzustellen, was doch ein gewaltiger
Entwicklungsproceß ist." Die Weltgeschichte hat ihre Dialektik an keiner Er¬
scheinung so glänzend entfaltet, als am Christenthum, zwar nicht in der ein¬
fachen Hegelschen Methode, wornach jede neuere Bildungsstufe die frühere
verschlang, sondern so, daß die zu verschiedenen Zeiten hervorgegangenen Bil¬
dungstriebe im blühenden Leben noch immer nebeneinander bestehen. Jene Ob¬
jektivität, welche jedermann als die nothwendige Eigenschaft eines Geschicht¬
schreibers zugeben wird, ist bei einer Geschichtschreibung des Christenthums am
schwersten zu erringen, weil hier Vergangenheit und Gegenwart aufs wunder¬
barste in eins verschmelzen, so daß man mit Gewalt die Regung des eignen


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[0381] über das darzustellende Zeitalter befragen darf, sondern es macht einzelne Quellen zum Mittelpunkt der Darstellung und läßt die Beobachtungen, die eine ziemlich ausgebreitete Belesenheit in den übrigen Quellen verstattet hat, sich um dieses aus einer einseitigen Anschauung gewonnene Bild gleichsam krystal- listren. Diese Methode wäre die richtige gewesen, wenn es sich darum ge¬ handelt hätte, das Leben des Hippolyt monographisch darzustellen, und wenn die vorliegenden Quellen von der Art gewesen wären, daß sie wesentlich aus sich selbst heraus verstanden werden könnten. Allein Herr Bunsen hatte sich die Aufgabe gestellt, ein Gesammtbild des UrchristenthumS zu entwerfen, und er bekennt selbst, daß seine Quelle ihre kritische Stellung und ihr Verständniß erst aus dem Studium der christlichen Gesammtliteratur der drei ersten Jahr¬ hunderte empfangen kann. So konnte er also nach seiner Methode nur zu einer Kritik seiner Quelle, aber nicht zu einer historischen Darstellung des Zeit¬ alters kommen; und man hat das Gefühl, daß das Ziel, welches er sich steckt, zu dem, was er wirklich geleistet, in keinem richtigen Verhältniß steht. Ein zweiter Uebelstand ist die praktische erbauliche Tendenz des Buches. Herr Bunsen gehört einer sehr ehrenwerthen Richtung des christlichen Lebens an, der wir praktisch das größte Gedeihen wünschen, die aber zur eigentlichen Geschichtschreibung des Christenthums vielleicht am wenigsten berufen sein möchte. Obgleich sie sich ihrem Inhalt nach der Rechtgläubigkeit nähert und gegen die anmaßende Einseitigkeit des Rationalismus den entschiedensten Protest einlegt, so steht sie mit dem letzteren doch insofern auf gleichem Boden, als ihr ein bestimmtes Ideal des Christenthums vorschwebt, welches mehr aus der Gesinnung, aus der Mischung moderner und alterthümlicher Bildungsmomente und aus dem subjectiven Heilsbedürsniß hervorgeht, als aus der unbefangenen Aufnahme der Geschichte. Dieses Ideal hat einen schönen sittlichen Inhalt und wehrt auch poetische Erregungen nicht ab; allein einerseits trägt es, ohne es zu wissen, die Resultate der modernen Bildung und Gesittung, oder um das bestimmtere, wenn auch etwas verrufene Wort zu gebrauchen, der modernen Aufklärung in die historischen Studien hinein, andrerseits bemüht es sich, als eine ruhende, unabänderliche Continuität darzustellen, was doch ein gewaltiger Entwicklungsproceß ist." Die Weltgeschichte hat ihre Dialektik an keiner Er¬ scheinung so glänzend entfaltet, als am Christenthum, zwar nicht in der ein¬ fachen Hegelschen Methode, wornach jede neuere Bildungsstufe die frühere verschlang, sondern so, daß die zu verschiedenen Zeiten hervorgegangenen Bil¬ dungstriebe im blühenden Leben noch immer nebeneinander bestehen. Jene Ob¬ jektivität, welche jedermann als die nothwendige Eigenschaft eines Geschicht¬ schreibers zugeben wird, ist bei einer Geschichtschreibung des Christenthums am schwersten zu erringen, weil hier Vergangenheit und Gegenwart aufs wunder¬ barste in eins verschmelzen, so daß man mit Gewalt die Regung des eignen

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 13, 1854, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341578_97779/380>, abgerufen am 06.05.2024.