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Die Grenzboten. Jg. 13, 1854, I. Semester. II. Band.

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einer Richtung sich fortbewegend; sie besitzt demnach Eigenschaften, durch
welche ihre Bedeutung weit über die eines zweifelhaften Vertrags empor¬
gehoben wird.

Da in der Mittheilung an den Bundestag Anschauungen ausgesprochen
werden, welche reich an den weitgreifendsten Consequenzen sind, so erlauben Sie
mir, auf diejenigen Punkte näher hinzuweisen, die mir als besonders wichtig
aufgefallen sind.

Zunächst ist es von Bedeutung, daß sich hier keine Spur von der Neu¬
tralitätspolitik zeigt, die in den Motiven des Vertrags trotz ihrer Jncohärenz
mit positiven Bestimmungen desselben noch ziemlich ungeschlacht hervorbrach.
Da die Mittheilung die schwebende Frage vom deutschen, d. h. nicht vom
russischen Standpunkte beleuchtet und aus den durch die russischen Uebergriffe
bedrohten Interessen Deutschlands die Pflichten der deutschen Regierungen her¬
leitet, beruht sie auf einer Anschauung, welche einer principiellen Nichtbetheili-
gung Deutschlands an der orientalischen Frage gradezu entgegengesetzt ist. Die
Aufgabe Oestreichs und Preußens "ist in diesem Augenblicke noch die der
Vorbereitung für alle Eventualitäten, und die beiden erhabenen Monarchen
werden gewiß sich glücklich schätzen, wenn die kommenden Ereignisse die Noth¬
wendigkeit eines activen Einschreitens nicht mit sich bringen werden". Damit
ist der Neutralitätspolitik, die Oestreich im November v. I. vor dem Bundes¬
tage als die seinige proclamirte und die von Preußen im März d. I. durch
die Mission des Obristlieutenant v. Manteuffel wieder empfohlen wurde, ein
formeller und unzweideutiger Absagebrief geschrieben.

Dieser Standpunkt erscheint in der Mittheilung als das unvermeidliche
Ergebnis? einer genauen Prüfung der deutschen Interessen, welche durch die
Ereignisse im Orient berührt sind. Sobald man von Tendenzen abstrahirte
und die Interessen ins Auge saßte, betrat man den Boden der Realpolitik
und gelangte hier nicht nur zu der Ueberzeugung von der Verwerflichkeit einer
Neutralitätspolitik, sondern noch zu zwei andern höchst bedeutungsvollen
Resultaten.

Man fand, daß der gegenwärtige Zustand Gefahren in sich birgt, die
"im Kreise der Macht" der deutschen Großmächte erwachsen sind. Diese
Erinnerung ist uns so fremd geworden, daß sie uns fast einem Märchen aus
längst entschwundener Heidenzeit entlehnt zu sein scheint; wir haben uns der
schweren Beeinträchtigung deutschen Rechtes, der verletzenden Einmischung in-
unsre eigensten Angelegenheiten so wenig erwehren können, daß wir nur nach
Selbständigkeit verlangt haben, ohne der Macht zu gedenken; die Vorstellung,
daß von einer Großmacht nur dann gesprochen werden könne, wenn sie außer¬
halb der Landesgrcnzen eine Machtsphäre zur Geltendmachung ihres Einflusses
besitze, war fast außer Cours gekommen. Wenn nun in einer Regierungs-


einer Richtung sich fortbewegend; sie besitzt demnach Eigenschaften, durch
welche ihre Bedeutung weit über die eines zweifelhaften Vertrags empor¬
gehoben wird.

Da in der Mittheilung an den Bundestag Anschauungen ausgesprochen
werden, welche reich an den weitgreifendsten Consequenzen sind, so erlauben Sie
mir, auf diejenigen Punkte näher hinzuweisen, die mir als besonders wichtig
aufgefallen sind.

Zunächst ist es von Bedeutung, daß sich hier keine Spur von der Neu¬
tralitätspolitik zeigt, die in den Motiven des Vertrags trotz ihrer Jncohärenz
mit positiven Bestimmungen desselben noch ziemlich ungeschlacht hervorbrach.
Da die Mittheilung die schwebende Frage vom deutschen, d. h. nicht vom
russischen Standpunkte beleuchtet und aus den durch die russischen Uebergriffe
bedrohten Interessen Deutschlands die Pflichten der deutschen Regierungen her¬
leitet, beruht sie auf einer Anschauung, welche einer principiellen Nichtbetheili-
gung Deutschlands an der orientalischen Frage gradezu entgegengesetzt ist. Die
Aufgabe Oestreichs und Preußens „ist in diesem Augenblicke noch die der
Vorbereitung für alle Eventualitäten, und die beiden erhabenen Monarchen
werden gewiß sich glücklich schätzen, wenn die kommenden Ereignisse die Noth¬
wendigkeit eines activen Einschreitens nicht mit sich bringen werden". Damit
ist der Neutralitätspolitik, die Oestreich im November v. I. vor dem Bundes¬
tage als die seinige proclamirte und die von Preußen im März d. I. durch
die Mission des Obristlieutenant v. Manteuffel wieder empfohlen wurde, ein
formeller und unzweideutiger Absagebrief geschrieben.

Dieser Standpunkt erscheint in der Mittheilung als das unvermeidliche
Ergebnis? einer genauen Prüfung der deutschen Interessen, welche durch die
Ereignisse im Orient berührt sind. Sobald man von Tendenzen abstrahirte
und die Interessen ins Auge saßte, betrat man den Boden der Realpolitik
und gelangte hier nicht nur zu der Ueberzeugung von der Verwerflichkeit einer
Neutralitätspolitik, sondern noch zu zwei andern höchst bedeutungsvollen
Resultaten.

Man fand, daß der gegenwärtige Zustand Gefahren in sich birgt, die
„im Kreise der Macht" der deutschen Großmächte erwachsen sind. Diese
Erinnerung ist uns so fremd geworden, daß sie uns fast einem Märchen aus
längst entschwundener Heidenzeit entlehnt zu sein scheint; wir haben uns der
schweren Beeinträchtigung deutschen Rechtes, der verletzenden Einmischung in-
unsre eigensten Angelegenheiten so wenig erwehren können, daß wir nur nach
Selbständigkeit verlangt haben, ohne der Macht zu gedenken; die Vorstellung,
daß von einer Großmacht nur dann gesprochen werden könne, wenn sie außer¬
halb der Landesgrcnzen eine Machtsphäre zur Geltendmachung ihres Einflusses
besitze, war fast außer Cours gekommen. Wenn nun in einer Regierungs-


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[0436] einer Richtung sich fortbewegend; sie besitzt demnach Eigenschaften, durch welche ihre Bedeutung weit über die eines zweifelhaften Vertrags empor¬ gehoben wird. Da in der Mittheilung an den Bundestag Anschauungen ausgesprochen werden, welche reich an den weitgreifendsten Consequenzen sind, so erlauben Sie mir, auf diejenigen Punkte näher hinzuweisen, die mir als besonders wichtig aufgefallen sind. Zunächst ist es von Bedeutung, daß sich hier keine Spur von der Neu¬ tralitätspolitik zeigt, die in den Motiven des Vertrags trotz ihrer Jncohärenz mit positiven Bestimmungen desselben noch ziemlich ungeschlacht hervorbrach. Da die Mittheilung die schwebende Frage vom deutschen, d. h. nicht vom russischen Standpunkte beleuchtet und aus den durch die russischen Uebergriffe bedrohten Interessen Deutschlands die Pflichten der deutschen Regierungen her¬ leitet, beruht sie auf einer Anschauung, welche einer principiellen Nichtbetheili- gung Deutschlands an der orientalischen Frage gradezu entgegengesetzt ist. Die Aufgabe Oestreichs und Preußens „ist in diesem Augenblicke noch die der Vorbereitung für alle Eventualitäten, und die beiden erhabenen Monarchen werden gewiß sich glücklich schätzen, wenn die kommenden Ereignisse die Noth¬ wendigkeit eines activen Einschreitens nicht mit sich bringen werden". Damit ist der Neutralitätspolitik, die Oestreich im November v. I. vor dem Bundes¬ tage als die seinige proclamirte und die von Preußen im März d. I. durch die Mission des Obristlieutenant v. Manteuffel wieder empfohlen wurde, ein formeller und unzweideutiger Absagebrief geschrieben. Dieser Standpunkt erscheint in der Mittheilung als das unvermeidliche Ergebnis? einer genauen Prüfung der deutschen Interessen, welche durch die Ereignisse im Orient berührt sind. Sobald man von Tendenzen abstrahirte und die Interessen ins Auge saßte, betrat man den Boden der Realpolitik und gelangte hier nicht nur zu der Ueberzeugung von der Verwerflichkeit einer Neutralitätspolitik, sondern noch zu zwei andern höchst bedeutungsvollen Resultaten. Man fand, daß der gegenwärtige Zustand Gefahren in sich birgt, die „im Kreise der Macht" der deutschen Großmächte erwachsen sind. Diese Erinnerung ist uns so fremd geworden, daß sie uns fast einem Märchen aus längst entschwundener Heidenzeit entlehnt zu sein scheint; wir haben uns der schweren Beeinträchtigung deutschen Rechtes, der verletzenden Einmischung in- unsre eigensten Angelegenheiten so wenig erwehren können, daß wir nur nach Selbständigkeit verlangt haben, ohne der Macht zu gedenken; die Vorstellung, daß von einer Großmacht nur dann gesprochen werden könne, wenn sie außer¬ halb der Landesgrcnzen eine Machtsphäre zur Geltendmachung ihres Einflusses besitze, war fast außer Cours gekommen. Wenn nun in einer Regierungs-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 13, 1854, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341578_97779/435>, abgerufen am 06.05.2024.