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Die Grenzboten. Jg. 13, 1854, I. Semester. II. Band.

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Goethes Faust und dessen Aufführung auf dem
Theater.

Ueber den Faust ist in Deutschland bereits so viel geschrieben, daß
man den Gegenstand allmälig für erschöpft halten könnte; allein wie es bei eif¬
rigem, ununterbrochen nach einem Punkt Hingerichteten Studium zu geschehen
pflegt: man hat sich allmälig ein Bild von dem Gegenstande gemacht, welches
den Gegenstand ganz verdeckt, und es ist daher nicht unzweckmäßig, wie bei
einem Palimpsest den Versuch zu machen, durch Wegwischung der Mönchs¬
schrift zu dem Original durchzudringen. Außerdem tritt der Faust durch die
fortdauernde Aufführung auf dem Theater noch in die Reihe der auf den gegen¬
wärtigen Kunstgeschmack influirenden Werke, und es ist daher nothwendig, auch
den Maßstab des Kunstgesetzes an ihn zu legen. Endlich haben wir mehrmals
theils in diesen Blättern, theils in der "deutschen Literaturgeschichte des neun¬
zehnten Jahrhunderts" Ansichten über dies Gedicht ausgesprochen, die von der
allgemeinen Meinung ziemlich weit abweichen und zu deren ausführlicher Be¬
gründung wir uns hier veranlaßt fühlen.

Den ersten Entwurf zum Faust machte Goethe 1771 in der Vollblüte
seiner Jugend. Damals gehörte sein Dichten und Trachten noch ganz dem
deutschen Leben an. Die holzschnittartigen grotesken Vorstellungen des sech¬
zehnten Jahrhunderts, das Costüm, die Sagen, die Redeweise und die Em-
pfindungsformen desselben erfüllten seine Phantasie. Durch Shakespeares Bei¬
spiel ermuthigt, die widersprechendsten Stimmungen in dem nämlichen Stücke
.geltend zu machen, schien es ihm nicht zu kühn, was sein eignes Herz und
das der anstrebenden Jugend bewegte, in jene alten Sagen einzuführen, in
deren Voraussetzung bei allem Widerspruch der Stimmung dennoch etwas Ver¬
wandtes lag. Denn das Zeitalter der Reformation war, grade wie das der
poetischen Wiedergeburt Deutschlands, ein Versuch, sich durch die Unmittelbarkeit
des Glaubens und des Gefühls dem Wust der unverarbeiteten Kenntnisse und
Traditionen zu entreißen, den eine arbeitsame, aber eigentlich unfruchtbare Ver-


Grenzbvten. ->8Ili- II. 61
Goethes Faust und dessen Aufführung auf dem
Theater.

Ueber den Faust ist in Deutschland bereits so viel geschrieben, daß
man den Gegenstand allmälig für erschöpft halten könnte; allein wie es bei eif¬
rigem, ununterbrochen nach einem Punkt Hingerichteten Studium zu geschehen
pflegt: man hat sich allmälig ein Bild von dem Gegenstande gemacht, welches
den Gegenstand ganz verdeckt, und es ist daher nicht unzweckmäßig, wie bei
einem Palimpsest den Versuch zu machen, durch Wegwischung der Mönchs¬
schrift zu dem Original durchzudringen. Außerdem tritt der Faust durch die
fortdauernde Aufführung auf dem Theater noch in die Reihe der auf den gegen¬
wärtigen Kunstgeschmack influirenden Werke, und es ist daher nothwendig, auch
den Maßstab des Kunstgesetzes an ihn zu legen. Endlich haben wir mehrmals
theils in diesen Blättern, theils in der „deutschen Literaturgeschichte des neun¬
zehnten Jahrhunderts" Ansichten über dies Gedicht ausgesprochen, die von der
allgemeinen Meinung ziemlich weit abweichen und zu deren ausführlicher Be¬
gründung wir uns hier veranlaßt fühlen.

Den ersten Entwurf zum Faust machte Goethe 1771 in der Vollblüte
seiner Jugend. Damals gehörte sein Dichten und Trachten noch ganz dem
deutschen Leben an. Die holzschnittartigen grotesken Vorstellungen des sech¬
zehnten Jahrhunderts, das Costüm, die Sagen, die Redeweise und die Em-
pfindungsformen desselben erfüllten seine Phantasie. Durch Shakespeares Bei¬
spiel ermuthigt, die widersprechendsten Stimmungen in dem nämlichen Stücke
.geltend zu machen, schien es ihm nicht zu kühn, was sein eignes Herz und
das der anstrebenden Jugend bewegte, in jene alten Sagen einzuführen, in
deren Voraussetzung bei allem Widerspruch der Stimmung dennoch etwas Ver¬
wandtes lag. Denn das Zeitalter der Reformation war, grade wie das der
poetischen Wiedergeburt Deutschlands, ein Versuch, sich durch die Unmittelbarkeit
des Glaubens und des Gefühls dem Wust der unverarbeiteten Kenntnisse und
Traditionen zu entreißen, den eine arbeitsame, aber eigentlich unfruchtbare Ver-


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[0489] Goethes Faust und dessen Aufführung auf dem Theater. Ueber den Faust ist in Deutschland bereits so viel geschrieben, daß man den Gegenstand allmälig für erschöpft halten könnte; allein wie es bei eif¬ rigem, ununterbrochen nach einem Punkt Hingerichteten Studium zu geschehen pflegt: man hat sich allmälig ein Bild von dem Gegenstande gemacht, welches den Gegenstand ganz verdeckt, und es ist daher nicht unzweckmäßig, wie bei einem Palimpsest den Versuch zu machen, durch Wegwischung der Mönchs¬ schrift zu dem Original durchzudringen. Außerdem tritt der Faust durch die fortdauernde Aufführung auf dem Theater noch in die Reihe der auf den gegen¬ wärtigen Kunstgeschmack influirenden Werke, und es ist daher nothwendig, auch den Maßstab des Kunstgesetzes an ihn zu legen. Endlich haben wir mehrmals theils in diesen Blättern, theils in der „deutschen Literaturgeschichte des neun¬ zehnten Jahrhunderts" Ansichten über dies Gedicht ausgesprochen, die von der allgemeinen Meinung ziemlich weit abweichen und zu deren ausführlicher Be¬ gründung wir uns hier veranlaßt fühlen. Den ersten Entwurf zum Faust machte Goethe 1771 in der Vollblüte seiner Jugend. Damals gehörte sein Dichten und Trachten noch ganz dem deutschen Leben an. Die holzschnittartigen grotesken Vorstellungen des sech¬ zehnten Jahrhunderts, das Costüm, die Sagen, die Redeweise und die Em- pfindungsformen desselben erfüllten seine Phantasie. Durch Shakespeares Bei¬ spiel ermuthigt, die widersprechendsten Stimmungen in dem nämlichen Stücke .geltend zu machen, schien es ihm nicht zu kühn, was sein eignes Herz und das der anstrebenden Jugend bewegte, in jene alten Sagen einzuführen, in deren Voraussetzung bei allem Widerspruch der Stimmung dennoch etwas Ver¬ wandtes lag. Denn das Zeitalter der Reformation war, grade wie das der poetischen Wiedergeburt Deutschlands, ein Versuch, sich durch die Unmittelbarkeit des Glaubens und des Gefühls dem Wust der unverarbeiteten Kenntnisse und Traditionen zu entreißen, den eine arbeitsame, aber eigentlich unfruchtbare Ver- Grenzbvten. ->8Ili- II. 61

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 13, 1854, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341578_97779/488>, abgerufen am 06.05.2024.