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Die Grenzboten. Jg. 13, 1854, I. Semester. II. Band.

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gangenheit aufgespeichert hatte. Die Scholastik des Mittelalters und die pro¬
testantische Theologie des 17. und 18. Jahrhunderts konnten gleichmäßig als
Fesseln betrachtet werden, denen ein freies und naturkräftigeö Gemüth sich zu
entreißen strebte. Wenn in der alten Volkssage vom Faust ursprünglich nichts
weiter enthalten war, als eine Teufelsgeschichte der gewöhnlichen Art, so konnte
man doch sehr leicht einen tieferen symbolischen Sinn hineinlegen. Geistvolle,
aber voreilige Denker, wie Paracelsus und seine naturphilosophischen Nach¬
folger in Deutschland und Italien, hatten in der That durch Inspiration im
Gegensatz gegen die mechanische Anerziehung der früheren Wissenschaft jene
höhere Weisheit sich anzueignen gesucht, in deren Besitz ihre Zeitgenossen eine
freventliche Auflehnung gegen das dem Menschen bestimmte Maß, einen Bund
mit dem Teufel sahen. Die Dichtung des achtzehnten Jahrhunderts und ihre
Verbündete, die Philosophie, strebten auf demselben Pfade weiter, und so lag
es nahe, die Ideen der beiden Zeiten ineinander spielen zu lassen. In diesen
seltsamen Bildern, welche Goethe mehr unter einem gemeinsamen Rahmen zu¬
sammenstellte^ als daß er sie organisch ineinander verarbeitet hätte, finden wir
die naiven Vorstellungen aus einer Zeit der unvollkommenen Bildung und die
kühnsten Visionen eines bereits überreifen Geistes hart nebeneinander; aber
um. sie alle schlingt sich der Faden einer einfachen, rühmenden Begebenheit, deren
Inhalt aus dem innersten Quell des Herzens geschöpft war und die mit ebenso
gewaltiger Glut, wie der Werther, jede fühlende Natur ergreifen mußte. Diese
fragmentarische Gestalt hatte das Gedicht noch im Jahre 1790, als es Goethe
zuerst veröffentlichte, und um es richtig zu würdigen, müssen wir uns ganz in
die Auffassung jene.r Zeit versetzen. Damals hatte man sich in die Weisheit
noch nicht so verloren, um der Poesie die Ausgabe zu stellen, reine Gedanken,
wie in einem dialektischen Proceß auf der Bühne zu entwickeln. Es siel nie¬
mand ein, den. Faust als ein philosophisches Lehrgebäude zu betrachten, in
welchem jede einzelne Scene, die Studenten in Auerbachs Keller und die
Promenade der Dienstmädchen am Pfingstfest mit eingerechnet, mit höherer
symbolischer Nothwendigkeit eine Stelle fände. Ebensowenig hielt man es für
ein eigentliches Drama. Wir müssen die Zeugnisse und Urtheile der Mitleben¬
den vor Augen nehmen, um uns von den vorgefaßten Meinungen unsrer eig¬
nen philosophischen Kritiker freizumachen. Das Gedicht war ein Volksbuch im
schönsten Sinne des Wortes geworden, aber man nahm es wie es war, als -
ein Fragment und nicht als ein geschlossenes Kunstwerk. Nie war die Be¬
wunderung und die Entzückung des Volks gerechtfertigter, als in diesem Falle.
Die höchste Vereinigung des gesunden Menschenverstandes und deö überquel¬
lenden Gefühls in der schönsten classischen Diction, die sich melodisch dem Ohr
einprägte, die den Geist mit der Gewalt unwiderstehlicher Evidenz gefangen¬
nahm und die, so Bedeutendes sie in ihrer ersten unmittelbaren Fassung sagte,


gangenheit aufgespeichert hatte. Die Scholastik des Mittelalters und die pro¬
testantische Theologie des 17. und 18. Jahrhunderts konnten gleichmäßig als
Fesseln betrachtet werden, denen ein freies und naturkräftigeö Gemüth sich zu
entreißen strebte. Wenn in der alten Volkssage vom Faust ursprünglich nichts
weiter enthalten war, als eine Teufelsgeschichte der gewöhnlichen Art, so konnte
man doch sehr leicht einen tieferen symbolischen Sinn hineinlegen. Geistvolle,
aber voreilige Denker, wie Paracelsus und seine naturphilosophischen Nach¬
folger in Deutschland und Italien, hatten in der That durch Inspiration im
Gegensatz gegen die mechanische Anerziehung der früheren Wissenschaft jene
höhere Weisheit sich anzueignen gesucht, in deren Besitz ihre Zeitgenossen eine
freventliche Auflehnung gegen das dem Menschen bestimmte Maß, einen Bund
mit dem Teufel sahen. Die Dichtung des achtzehnten Jahrhunderts und ihre
Verbündete, die Philosophie, strebten auf demselben Pfade weiter, und so lag
es nahe, die Ideen der beiden Zeiten ineinander spielen zu lassen. In diesen
seltsamen Bildern, welche Goethe mehr unter einem gemeinsamen Rahmen zu¬
sammenstellte^ als daß er sie organisch ineinander verarbeitet hätte, finden wir
die naiven Vorstellungen aus einer Zeit der unvollkommenen Bildung und die
kühnsten Visionen eines bereits überreifen Geistes hart nebeneinander; aber
um. sie alle schlingt sich der Faden einer einfachen, rühmenden Begebenheit, deren
Inhalt aus dem innersten Quell des Herzens geschöpft war und die mit ebenso
gewaltiger Glut, wie der Werther, jede fühlende Natur ergreifen mußte. Diese
fragmentarische Gestalt hatte das Gedicht noch im Jahre 1790, als es Goethe
zuerst veröffentlichte, und um es richtig zu würdigen, müssen wir uns ganz in
die Auffassung jene.r Zeit versetzen. Damals hatte man sich in die Weisheit
noch nicht so verloren, um der Poesie die Ausgabe zu stellen, reine Gedanken,
wie in einem dialektischen Proceß auf der Bühne zu entwickeln. Es siel nie¬
mand ein, den. Faust als ein philosophisches Lehrgebäude zu betrachten, in
welchem jede einzelne Scene, die Studenten in Auerbachs Keller und die
Promenade der Dienstmädchen am Pfingstfest mit eingerechnet, mit höherer
symbolischer Nothwendigkeit eine Stelle fände. Ebensowenig hielt man es für
ein eigentliches Drama. Wir müssen die Zeugnisse und Urtheile der Mitleben¬
den vor Augen nehmen, um uns von den vorgefaßten Meinungen unsrer eig¬
nen philosophischen Kritiker freizumachen. Das Gedicht war ein Volksbuch im
schönsten Sinne des Wortes geworden, aber man nahm es wie es war, als -
ein Fragment und nicht als ein geschlossenes Kunstwerk. Nie war die Be¬
wunderung und die Entzückung des Volks gerechtfertigter, als in diesem Falle.
Die höchste Vereinigung des gesunden Menschenverstandes und deö überquel¬
lenden Gefühls in der schönsten classischen Diction, die sich melodisch dem Ohr
einprägte, die den Geist mit der Gewalt unwiderstehlicher Evidenz gefangen¬
nahm und die, so Bedeutendes sie in ihrer ersten unmittelbaren Fassung sagte,


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 13, 1854, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341578_97779/489>, abgerufen am 06.05.2024.