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Die Grenzboten. Jg. 13, 1854, I. Semester. II. Band.

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diese ganze Gesellschaft bewegt. Der Bürgerstand, von dessen Anschauungen der
Roman ausgeht, findet zwar in sich selbst keinen Inhalt, der ihm Genüge geben
könnte, aber er bringt den Erscheinungen eine liberale Empfänglichkeit entgegen,
und in der Künstlerwelt wie in der aristokratischen Gesellschaft eröffnet sich ihm
eine artige Bilderreihe, in der es zwar nicht unbedingt musterhaft, aber heiter
und lebendig zugeht. Die Ahnung einer tiefern Poesie des Lebens dämmert ans
einigen dunkeln Gestalten, wenn auch nur räthselhaft und unbefriedigend in diese
Welt des Scheins, und eine Reihe bedeutender Persönlichkeiten sehen wir ge¬
schäftig, auf bald zweckmäßige, bald unzweckmäßige Weise den fehlenden idealen
Gehalt des Lebens wenigstens nothdürftig herzustellen.

Das ist der erste Eindruck, deu der Wilhelm Meister ans jedes bildnngS-
bedürftige und poetisch erregbare Gemüth hervorbringt. Die Schattenseite ergibt
sich erst bei näherem Nachdenken. Alle diese anmuthigen Bilder sind nur ein
leerer Schein, hinter dem sich die grenzenloseste Unwahrheit versteckt. Alles, was
Goethes Gegner von Novalis an bis auf Pustkuchen und Menzel gegen den
sittlichen Inhalt dieser Dichtung eingewendet haben, ist vollkommen begründet, nur
daß überall der Irrthum vorwaltet, die Consequenzen der Reflexion dem freien,
unbefangenen Schaffen des Dichters aufzubürden. Goethes dichterische Natur
war ein Verschönernngsspiegel, in dem jede Gestalt nur ihre harmonischen Seiten
wiederstrahlte/ Freilich war damit nothwendig verbunden, daß alle diese Er¬
scheinungen etwas Fragmentarisches zeigen, daß jeder Versuch, einen innern Zu¬
sammenhang hineinzutragen, ans dem heitern Gemälde ein Zerrbild macht. Ana-
lhsircn wir die Gesellschaft, welche uns Wilhelm Meister schildert, genauer, so
versinken wir allerdings in eine bodenlose Unsittlichkeir. DaS bürgerliche Lebe",
welches überall die feste Grundlage der Gesellschaft sein muß, wenn es auch nicht
die zartesten Blüten desselben zeitigt, scheint hier allen Glauben an sich selbst
verloren zu haben. Werner drückt die bloße Verkümmerung des Erwerbs aus,
und Meister das drückende Gefühl der Unfertigkeit, das sich nach irgend einer
Ergänzung sehnt, ohne zu ahnen, woher ihm dieselbe kommen soll, und das sich
daher blind dem abenteuerlichsten Zufall überläßt. Die Reise, in der Meister
seinen ursprünglichen Zweck so vollständig vergißt, daß selbst die Nachricht von
dem Tode seines Vaters ihm wie eine Episode erscheint, die ihn nicht näher
berührt, muß eine peinliche Empfindung hervorrufen, sobald wir nachzu¬
denken anfangen. Der Versuch, das bürgerliche Leben selbst zu idealisiren, war
einem späteren Zeitalter vorbehalten, in welchem wieder Goethe und Tieck ass
Führer vorangingen. -- Betrachten wir nun die ideale Welt, welche das
Bürgerthum sich entgegensetzt, so finden wir weder unter den Künstlern noch unter
den Edelleuten eine viel erbaulichere Aussicht. Bei den einen wie bei de" ander"
ist der Schein und die mit ihm verbundene Lüge fast zur zweiten Natur geworden.
Von jenen höhern Interessen, die den Adel anderer Nationen zu einer erhöhtereu


diese ganze Gesellschaft bewegt. Der Bürgerstand, von dessen Anschauungen der
Roman ausgeht, findet zwar in sich selbst keinen Inhalt, der ihm Genüge geben
könnte, aber er bringt den Erscheinungen eine liberale Empfänglichkeit entgegen,
und in der Künstlerwelt wie in der aristokratischen Gesellschaft eröffnet sich ihm
eine artige Bilderreihe, in der es zwar nicht unbedingt musterhaft, aber heiter
und lebendig zugeht. Die Ahnung einer tiefern Poesie des Lebens dämmert ans
einigen dunkeln Gestalten, wenn auch nur räthselhaft und unbefriedigend in diese
Welt des Scheins, und eine Reihe bedeutender Persönlichkeiten sehen wir ge¬
schäftig, auf bald zweckmäßige, bald unzweckmäßige Weise den fehlenden idealen
Gehalt des Lebens wenigstens nothdürftig herzustellen.

Das ist der erste Eindruck, deu der Wilhelm Meister ans jedes bildnngS-
bedürftige und poetisch erregbare Gemüth hervorbringt. Die Schattenseite ergibt
sich erst bei näherem Nachdenken. Alle diese anmuthigen Bilder sind nur ein
leerer Schein, hinter dem sich die grenzenloseste Unwahrheit versteckt. Alles, was
Goethes Gegner von Novalis an bis auf Pustkuchen und Menzel gegen den
sittlichen Inhalt dieser Dichtung eingewendet haben, ist vollkommen begründet, nur
daß überall der Irrthum vorwaltet, die Consequenzen der Reflexion dem freien,
unbefangenen Schaffen des Dichters aufzubürden. Goethes dichterische Natur
war ein Verschönernngsspiegel, in dem jede Gestalt nur ihre harmonischen Seiten
wiederstrahlte/ Freilich war damit nothwendig verbunden, daß alle diese Er¬
scheinungen etwas Fragmentarisches zeigen, daß jeder Versuch, einen innern Zu¬
sammenhang hineinzutragen, ans dem heitern Gemälde ein Zerrbild macht. Ana-
lhsircn wir die Gesellschaft, welche uns Wilhelm Meister schildert, genauer, so
versinken wir allerdings in eine bodenlose Unsittlichkeir. DaS bürgerliche Lebe»,
welches überall die feste Grundlage der Gesellschaft sein muß, wenn es auch nicht
die zartesten Blüten desselben zeitigt, scheint hier allen Glauben an sich selbst
verloren zu haben. Werner drückt die bloße Verkümmerung des Erwerbs aus,
und Meister das drückende Gefühl der Unfertigkeit, das sich nach irgend einer
Ergänzung sehnt, ohne zu ahnen, woher ihm dieselbe kommen soll, und das sich
daher blind dem abenteuerlichsten Zufall überläßt. Die Reise, in der Meister
seinen ursprünglichen Zweck so vollständig vergißt, daß selbst die Nachricht von
dem Tode seines Vaters ihm wie eine Episode erscheint, die ihn nicht näher
berührt, muß eine peinliche Empfindung hervorrufen, sobald wir nachzu¬
denken anfangen. Der Versuch, das bürgerliche Leben selbst zu idealisiren, war
einem späteren Zeitalter vorbehalten, in welchem wieder Goethe und Tieck ass
Führer vorangingen. — Betrachten wir nun die ideale Welt, welche das
Bürgerthum sich entgegensetzt, so finden wir weder unter den Künstlern noch unter
den Edelleuten eine viel erbaulichere Aussicht. Bei den einen wie bei de» ander»
ist der Schein und die mit ihm verbundene Lüge fast zur zweiten Natur geworden.
Von jenen höhern Interessen, die den Adel anderer Nationen zu einer erhöhtereu


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 13, 1854, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341578_97779/49>, abgerufen am 06.05.2024.