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Die Grenzboten. Jg. 14, 1855, II. Semester. IV. Band.

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sind vergessen, und die ungeheure Sammlung seiner Schriften durchzusehen,
würde eine übermenschliche Geduld kaum ausreichen. Aber wenn uns eine
Auswahl wie die vorliegende geboten wird, so freuen wir uns doch auf das
herzlichste über diese Verbindung von Kraft, Scharfsinn und Anmuth, die in
der französischen Literatur kaum ihres Gleichen hat. Es ist ein Unrecht, wenn
man Voltaire zu einem bloßen Spötter öder Atheisten machen will. Sein
Glaube an Gott und an die hohe Ausgabe der Menschheit, wenn er sich auch
häufig hinter einer frivolen Außenseite versteckt, war im Grunde nicht schwächer,
als bei Goethe. Er hat der historischen Erscheinung des Christenthums großes
Unrecht gethan, weil er voreilig den Maßstab seines Zeitalters an alle Perio¬
den der Weltgeschichte anlegte; aber gegen das, was sich damals in Frankreich
Christenthum nannte, war eine rücksichtslose Polemik nothwendig, und die
neuesten Versuche, dieses Christenthum des 18. Jahrhunderts dem gesunden
Sinn der Franzosen wieder aufzudrängen, werden auf eine ähnliche Weise
endigen, wie damals, und man wird wieder keine andere Form der Bekämpfung
finden, als Hohn und Spott. Man nimmt es mit der tadelnden-Bezeichnung
eines Spötters oft zu leicht. In Zeiten, wo die Lüge das große Wort führt,
wo ein hohles Pharisäerthum sich mit dem Heiligenschein umkleidet, ist es schwer,
keine Satire zu schreiben.

Was Goethe betrifft, so ist die Frage, ob er ein Christ war oder nicht,
schon sehr häufig und sehr ausführlich besprochen worden. Wenn man nur
den einen Christen nennen will, der alle Artikel eines Katechismus, gleichviel
welcher Confession, zu beschwören bereit ist, so war Goethe gewiß kein Christ.
Man bedarf dazu gar keiner indirecten Beweise. Goethe hat es hundertmal
in jedem Lebensalter so laut und vernehmlich ausgesprochen, daß man sich ge¬
waltsam die Ohren zustopfen muß, wenn man es nicht hören will. Aber darf
man denjenigen einen Christen nennen, der die innere Quelle aller Religiosität
warm in seinem Herzen trägt, der sür die große historische Erscheinung der
positiven Religion ein bewunderndes Verständniß besitzt, und der auch in un¬
klaren und verworrenen Geheimnissen den religiösen Jnstinct ahnt und ehrt,
so darf Goethe auf diesen Namen wol ebensogut Anspruch machen, als
irgendein anderer Dichter. Das vorliegende Büchlein ist ein schöner Beleg
dazu. --


Ludwig Tieck. Eine literarhistorische Skizze von I. L. Hoffmann. Nürnberg.
Bauer Le Raspe. --

Ein fleißig ausgearbeitetes Buch, eingegeben von warmer Liebe zu dem
verstorbenen Dichter und ohne zu große Uebertreibungen durchgeführt. Der
Verfasser hätte nicht nöthig gehabt, seinen Standpunkt fortwährend gegen den
Standpunkt schärferer Kritiker zu vertheidigen, denn beide kommen einander


sind vergessen, und die ungeheure Sammlung seiner Schriften durchzusehen,
würde eine übermenschliche Geduld kaum ausreichen. Aber wenn uns eine
Auswahl wie die vorliegende geboten wird, so freuen wir uns doch auf das
herzlichste über diese Verbindung von Kraft, Scharfsinn und Anmuth, die in
der französischen Literatur kaum ihres Gleichen hat. Es ist ein Unrecht, wenn
man Voltaire zu einem bloßen Spötter öder Atheisten machen will. Sein
Glaube an Gott und an die hohe Ausgabe der Menschheit, wenn er sich auch
häufig hinter einer frivolen Außenseite versteckt, war im Grunde nicht schwächer,
als bei Goethe. Er hat der historischen Erscheinung des Christenthums großes
Unrecht gethan, weil er voreilig den Maßstab seines Zeitalters an alle Perio¬
den der Weltgeschichte anlegte; aber gegen das, was sich damals in Frankreich
Christenthum nannte, war eine rücksichtslose Polemik nothwendig, und die
neuesten Versuche, dieses Christenthum des 18. Jahrhunderts dem gesunden
Sinn der Franzosen wieder aufzudrängen, werden auf eine ähnliche Weise
endigen, wie damals, und man wird wieder keine andere Form der Bekämpfung
finden, als Hohn und Spott. Man nimmt es mit der tadelnden-Bezeichnung
eines Spötters oft zu leicht. In Zeiten, wo die Lüge das große Wort führt,
wo ein hohles Pharisäerthum sich mit dem Heiligenschein umkleidet, ist es schwer,
keine Satire zu schreiben.

Was Goethe betrifft, so ist die Frage, ob er ein Christ war oder nicht,
schon sehr häufig und sehr ausführlich besprochen worden. Wenn man nur
den einen Christen nennen will, der alle Artikel eines Katechismus, gleichviel
welcher Confession, zu beschwören bereit ist, so war Goethe gewiß kein Christ.
Man bedarf dazu gar keiner indirecten Beweise. Goethe hat es hundertmal
in jedem Lebensalter so laut und vernehmlich ausgesprochen, daß man sich ge¬
waltsam die Ohren zustopfen muß, wenn man es nicht hören will. Aber darf
man denjenigen einen Christen nennen, der die innere Quelle aller Religiosität
warm in seinem Herzen trägt, der sür die große historische Erscheinung der
positiven Religion ein bewunderndes Verständniß besitzt, und der auch in un¬
klaren und verworrenen Geheimnissen den religiösen Jnstinct ahnt und ehrt,
so darf Goethe auf diesen Namen wol ebensogut Anspruch machen, als
irgendein anderer Dichter. Das vorliegende Büchlein ist ein schöner Beleg
dazu. —


Ludwig Tieck. Eine literarhistorische Skizze von I. L. Hoffmann. Nürnberg.
Bauer Le Raspe. —

Ein fleißig ausgearbeitetes Buch, eingegeben von warmer Liebe zu dem
verstorbenen Dichter und ohne zu große Uebertreibungen durchgeführt. Der
Verfasser hätte nicht nöthig gehabt, seinen Standpunkt fortwährend gegen den
Standpunkt schärferer Kritiker zu vertheidigen, denn beide kommen einander


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 14, 1855, II. Semester. IV. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341580_100453/154>, abgerufen am 27.04.2024.