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Die Grenzboten. Jg. 14, 1855, II. Semester. IV. Band.

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Das Thal der Weichsel in Preußen.

Obwol man heutzutage sich in Preußen schon besser zu orientiren weiß,
als Herr von Voltaire, welcher in seiner Geschichte Peter des Großen sagt:
"Marienwerder ist eine kleine Stadt im westlichen Pommern und befindet sich
in den Grenzen von Preußen; Elbing aber ist eine Hauptstadt im königlichen
Preußen in Polen," so ist man im Allgemeinen doch noch stark in Vor-
urtheilen befangen. Ich weiß es aus eigner Erfahrung, wie so manchem lieben
Landsmann in Deutschland beim Namen der "Weichsel" oder bei deren Anblick
auf der Karte eine gewisse nordische Kälte anzusrösteln pflegt und wie die Ver¬
setzung eines Beamten nach West- oder gar Ostpreußen für eine Art von Ver¬
bannung gilt. Mqn gesteht uns zwar als eigne Vorzüge den Bernstein, die
grauen Erbsen und das Elenthier zu, ja ein älterer Geograph ist sogar so
gütig, unsre Forsten mit Waldeseln und die Helaer Nehrung mit Fettschwanz¬
schafen zu bevölkern; aber mit diesen Zugeständnissen glaubt man uns auch
hinlänglich abgefunden zu haben, -- und wenn wir gar noch die landschaft¬
lichen Reize unsrer Gegenden, wie z. B. die des Weichselthales, rühmen, so
zuckt man mitleidig die Achseln und sieht darin nur die verzeihliche Vorliebe
für unser Geburtsland, welche Liebe erfahrungsmäßig sich umsomehr zeigt, je¬
weiliger sie durch die Dürftigkeit des Landes gerechtfertigt wird. Um so größer
aber wird die Enttäuschung, die jeder Fremde erfährt, der unsre abgelegene
Provinz in ihren mannigfachen Eigenthümlichkeiten näher in Augenschein
nimmt; er wird anerkennen müssen, daß keiner der großen Ströme Deutsch¬
lands im untern Gebiete seines Laufes dem Blicke eine so reiche Reihe wechsel¬
voller und malerischer Landschaftsbilder bietet, als grade unsre Weichsel.

Beginnen wir mit dem alterthümlichen Thorn, das seines früheren, fo
bedeutenden Handels wegen die "Königin der Weichsel" genannt wurde und
in der vaterländischen Geschichte eine so gewichtige Rolle gespielt hat. Deshalb
zunächst ein kurzer Rückblick auf seine Vorzeit. Thorn wurde zuerst von Her¬
mann Ball neben der alten Burg Thurno erbaut, seiner ungünstigen Lage
wegen aber einige Jahre später wieder abgebrochen und eine Meile weiter hin¬
auf auf den jetzigen, etwas höheren Ort verlegt. Während der Ordensherr¬
schaft war die Stadt besonders reich und blühend durch ihren Handel und
wurde dem hanseatischen Bunde beigezählt, schloß sich später aber dem preußi¬
schen Städtebünde gegen den Orden an und kam infolge dessen 1i66, durch
den in ihren Mauern geschlossenen Frieden an Polen. Seitdem hatte Thorn
viel zu leiden, theils durch Polens Zerrüttung, theils durch Kriege mit den
Schweden. Religiöse Streitigkeiten infolge der Reformation führten zu der be¬
kannten thorner Tragödie, welche, von Jesuiten angeregt, am 24. November 1724


Das Thal der Weichsel in Preußen.

Obwol man heutzutage sich in Preußen schon besser zu orientiren weiß,
als Herr von Voltaire, welcher in seiner Geschichte Peter des Großen sagt:
„Marienwerder ist eine kleine Stadt im westlichen Pommern und befindet sich
in den Grenzen von Preußen; Elbing aber ist eine Hauptstadt im königlichen
Preußen in Polen," so ist man im Allgemeinen doch noch stark in Vor-
urtheilen befangen. Ich weiß es aus eigner Erfahrung, wie so manchem lieben
Landsmann in Deutschland beim Namen der „Weichsel" oder bei deren Anblick
auf der Karte eine gewisse nordische Kälte anzusrösteln pflegt und wie die Ver¬
setzung eines Beamten nach West- oder gar Ostpreußen für eine Art von Ver¬
bannung gilt. Mqn gesteht uns zwar als eigne Vorzüge den Bernstein, die
grauen Erbsen und das Elenthier zu, ja ein älterer Geograph ist sogar so
gütig, unsre Forsten mit Waldeseln und die Helaer Nehrung mit Fettschwanz¬
schafen zu bevölkern; aber mit diesen Zugeständnissen glaubt man uns auch
hinlänglich abgefunden zu haben, — und wenn wir gar noch die landschaft¬
lichen Reize unsrer Gegenden, wie z. B. die des Weichselthales, rühmen, so
zuckt man mitleidig die Achseln und sieht darin nur die verzeihliche Vorliebe
für unser Geburtsland, welche Liebe erfahrungsmäßig sich umsomehr zeigt, je¬
weiliger sie durch die Dürftigkeit des Landes gerechtfertigt wird. Um so größer
aber wird die Enttäuschung, die jeder Fremde erfährt, der unsre abgelegene
Provinz in ihren mannigfachen Eigenthümlichkeiten näher in Augenschein
nimmt; er wird anerkennen müssen, daß keiner der großen Ströme Deutsch¬
lands im untern Gebiete seines Laufes dem Blicke eine so reiche Reihe wechsel¬
voller und malerischer Landschaftsbilder bietet, als grade unsre Weichsel.

Beginnen wir mit dem alterthümlichen Thorn, das seines früheren, fo
bedeutenden Handels wegen die „Königin der Weichsel" genannt wurde und
in der vaterländischen Geschichte eine so gewichtige Rolle gespielt hat. Deshalb
zunächst ein kurzer Rückblick auf seine Vorzeit. Thorn wurde zuerst von Her¬
mann Ball neben der alten Burg Thurno erbaut, seiner ungünstigen Lage
wegen aber einige Jahre später wieder abgebrochen und eine Meile weiter hin¬
auf auf den jetzigen, etwas höheren Ort verlegt. Während der Ordensherr¬
schaft war die Stadt besonders reich und blühend durch ihren Handel und
wurde dem hanseatischen Bunde beigezählt, schloß sich später aber dem preußi¬
schen Städtebünde gegen den Orden an und kam infolge dessen 1i66, durch
den in ihren Mauern geschlossenen Frieden an Polen. Seitdem hatte Thorn
viel zu leiden, theils durch Polens Zerrüttung, theils durch Kriege mit den
Schweden. Religiöse Streitigkeiten infolge der Reformation führten zu der be¬
kannten thorner Tragödie, welche, von Jesuiten angeregt, am 24. November 1724


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[0178] Das Thal der Weichsel in Preußen. Obwol man heutzutage sich in Preußen schon besser zu orientiren weiß, als Herr von Voltaire, welcher in seiner Geschichte Peter des Großen sagt: „Marienwerder ist eine kleine Stadt im westlichen Pommern und befindet sich in den Grenzen von Preußen; Elbing aber ist eine Hauptstadt im königlichen Preußen in Polen," so ist man im Allgemeinen doch noch stark in Vor- urtheilen befangen. Ich weiß es aus eigner Erfahrung, wie so manchem lieben Landsmann in Deutschland beim Namen der „Weichsel" oder bei deren Anblick auf der Karte eine gewisse nordische Kälte anzusrösteln pflegt und wie die Ver¬ setzung eines Beamten nach West- oder gar Ostpreußen für eine Art von Ver¬ bannung gilt. Mqn gesteht uns zwar als eigne Vorzüge den Bernstein, die grauen Erbsen und das Elenthier zu, ja ein älterer Geograph ist sogar so gütig, unsre Forsten mit Waldeseln und die Helaer Nehrung mit Fettschwanz¬ schafen zu bevölkern; aber mit diesen Zugeständnissen glaubt man uns auch hinlänglich abgefunden zu haben, — und wenn wir gar noch die landschaft¬ lichen Reize unsrer Gegenden, wie z. B. die des Weichselthales, rühmen, so zuckt man mitleidig die Achseln und sieht darin nur die verzeihliche Vorliebe für unser Geburtsland, welche Liebe erfahrungsmäßig sich umsomehr zeigt, je¬ weiliger sie durch die Dürftigkeit des Landes gerechtfertigt wird. Um so größer aber wird die Enttäuschung, die jeder Fremde erfährt, der unsre abgelegene Provinz in ihren mannigfachen Eigenthümlichkeiten näher in Augenschein nimmt; er wird anerkennen müssen, daß keiner der großen Ströme Deutsch¬ lands im untern Gebiete seines Laufes dem Blicke eine so reiche Reihe wechsel¬ voller und malerischer Landschaftsbilder bietet, als grade unsre Weichsel. Beginnen wir mit dem alterthümlichen Thorn, das seines früheren, fo bedeutenden Handels wegen die „Königin der Weichsel" genannt wurde und in der vaterländischen Geschichte eine so gewichtige Rolle gespielt hat. Deshalb zunächst ein kurzer Rückblick auf seine Vorzeit. Thorn wurde zuerst von Her¬ mann Ball neben der alten Burg Thurno erbaut, seiner ungünstigen Lage wegen aber einige Jahre später wieder abgebrochen und eine Meile weiter hin¬ auf auf den jetzigen, etwas höheren Ort verlegt. Während der Ordensherr¬ schaft war die Stadt besonders reich und blühend durch ihren Handel und wurde dem hanseatischen Bunde beigezählt, schloß sich später aber dem preußi¬ schen Städtebünde gegen den Orden an und kam infolge dessen 1i66, durch den in ihren Mauern geschlossenen Frieden an Polen. Seitdem hatte Thorn viel zu leiden, theils durch Polens Zerrüttung, theils durch Kriege mit den Schweden. Religiöse Streitigkeiten infolge der Reformation führten zu der be¬ kannten thorner Tragödie, welche, von Jesuiten angeregt, am 24. November 1724

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 14, 1855, II. Semester. IV. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341580_100453/178>, abgerufen am 27.04.2024.