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Die Grenzboten. Jg. 14, 1855, II. Semester. IV. Band.

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ßer, diesen Mann von Granit, der die Civilisation in Nußland und den russi¬
schen Einfluß in Europa begründete und der mich ein Jahrhundert nach seinem
Tode zu dieser verhängnißvollen Expedition zwingt?" Und jetzt erst lösten sich
die Zungen, als der Gegenstand, den alle zu vermeiden wünschten, sich so zu,
sagen in die Unterhaltung eingedrängt hatte.

Aber wie war unterdessen die Stimmung zu Hause und welchen Empfang
bereitete Frankreich dem Herrscher vor, der unüberwunden, aber nicht als Sie¬
ger zurückkehrte und nur kümmerliche Neste von der Armee zurückbrachte, welche
die großartigste der neuern Zeit gewesen war? Wir führen Villemainö eigne
Worte an, denn er spricht aus persönlicher Erfahrung: "Seit etwa einem
Monat kannte jeder das Unglück, nicht in seinen greuelvollen Einzelnheiten,
aber die Unermeßlichkeit der Katastrophe. Man kannte es auch durch daS
neunundzwanzigste Bulletin, das zwei Tage vor der Rückkehr des Kaisers, am
20sten December -1812, im Moniteur erschien. Darin hatte Frankreich den Be¬
richt über die letzten Verluste der Armee gelesen, den es sich immer wieder
voll Bestürzung ins Gedächtniß zurückrief; und diese späten Eingeständnisse,
entsetzlich, aber noch nicht vollständig, erschienen nach einer langen Periode des
Schweigens und der Lüge wie eine Reaction der Wahrheit und erfüllten alle
mit der Betäubung sorgenvoller Unruhe." Vielleicht zum ersten Male mischte
sich in die öffentliche Trauer und die Thränen der Einzelnen, in die düstere
Ungewißheit und die beständigen Todesnachrichten, die zahllose Familien in Trauer
versetzten, offen ausgesprochene bittere Entrüstung. Laut wagte man die un¬
glücklichen Worte am Schlüsse des Bulletins zu tadeln, welche bestimmt zu
sein schienen eine Art Entschädigung für seinen beklagenswerthen Inhalt darzu¬
bieten "Die Gesundheit des Kaisers war nie besser." -- Wir müssen
mit diesem Beispiel von der kolossalen Selbstsucht des Eroberers schließen und
können Villemain nicht durch die Krisis von -1813 und die -100 Tage begleiten,
so interessant auch darüber seine Mittheilungen sind.




Literatur.

Die Todten Hand. Von F. le Prince. Aus dem Französischen übersetzt
von A. Kretzschmar. 3 Bände. Leipzig, Kollmann. -- Der Verfasser hat den
Roman Monte-Christo in der Weise fortgesetzt, daß er zeigt, wie die abstracte
Rachsucht des reichen Grasen, soviel Grund er auch hatte, seinen Feinden zu zür¬
nen, doch in ihrem innersten Kern unsittlich und frevelhaft war. Er läßt die
schlimmen Folgen derselben hervortreten, und der Graf Monte-Christo muß zuletzt
als reuiger Büßer bei allen Personen, die er gekränkt, demüthige Abbitte thun.


ßer, diesen Mann von Granit, der die Civilisation in Nußland und den russi¬
schen Einfluß in Europa begründete und der mich ein Jahrhundert nach seinem
Tode zu dieser verhängnißvollen Expedition zwingt?" Und jetzt erst lösten sich
die Zungen, als der Gegenstand, den alle zu vermeiden wünschten, sich so zu,
sagen in die Unterhaltung eingedrängt hatte.

Aber wie war unterdessen die Stimmung zu Hause und welchen Empfang
bereitete Frankreich dem Herrscher vor, der unüberwunden, aber nicht als Sie¬
ger zurückkehrte und nur kümmerliche Neste von der Armee zurückbrachte, welche
die großartigste der neuern Zeit gewesen war? Wir führen Villemainö eigne
Worte an, denn er spricht aus persönlicher Erfahrung: „Seit etwa einem
Monat kannte jeder das Unglück, nicht in seinen greuelvollen Einzelnheiten,
aber die Unermeßlichkeit der Katastrophe. Man kannte es auch durch daS
neunundzwanzigste Bulletin, das zwei Tage vor der Rückkehr des Kaisers, am
20sten December -1812, im Moniteur erschien. Darin hatte Frankreich den Be¬
richt über die letzten Verluste der Armee gelesen, den es sich immer wieder
voll Bestürzung ins Gedächtniß zurückrief; und diese späten Eingeständnisse,
entsetzlich, aber noch nicht vollständig, erschienen nach einer langen Periode des
Schweigens und der Lüge wie eine Reaction der Wahrheit und erfüllten alle
mit der Betäubung sorgenvoller Unruhe." Vielleicht zum ersten Male mischte
sich in die öffentliche Trauer und die Thränen der Einzelnen, in die düstere
Ungewißheit und die beständigen Todesnachrichten, die zahllose Familien in Trauer
versetzten, offen ausgesprochene bittere Entrüstung. Laut wagte man die un¬
glücklichen Worte am Schlüsse des Bulletins zu tadeln, welche bestimmt zu
sein schienen eine Art Entschädigung für seinen beklagenswerthen Inhalt darzu¬
bieten „Die Gesundheit des Kaisers war nie besser." — Wir müssen
mit diesem Beispiel von der kolossalen Selbstsucht des Eroberers schließen und
können Villemain nicht durch die Krisis von -1813 und die -100 Tage begleiten,
so interessant auch darüber seine Mittheilungen sind.




Literatur.

Die Todten Hand. Von F. le Prince. Aus dem Französischen übersetzt
von A. Kretzschmar. 3 Bände. Leipzig, Kollmann. — Der Verfasser hat den
Roman Monte-Christo in der Weise fortgesetzt, daß er zeigt, wie die abstracte
Rachsucht des reichen Grasen, soviel Grund er auch hatte, seinen Feinden zu zür¬
nen, doch in ihrem innersten Kern unsittlich und frevelhaft war. Er läßt die
schlimmen Folgen derselben hervortreten, und der Graf Monte-Christo muß zuletzt
als reuiger Büßer bei allen Personen, die er gekränkt, demüthige Abbitte thun.


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 14, 1855, II. Semester. IV. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341580_100453/247>, abgerufen am 27.04.2024.