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Die Grenzboten. Jg. 14, 1855, II. Semester. IV. Band.

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man nicht weiß, kann man daran denken, die Lücken dieses Gemäldes durch
speculative Conjectur auszufüllen, die freilich auch den Gesetzen der Wissen¬
schaft folgen muß. Jeder andre Weg, schneller zum Ziel zu gelangen, indem
man die naturalistische Spekulation durch die kirchliche Legende und das Dogma
durch den philosophischen Gedanken durchklingen läßt, so viel Geist, Scharfsinn
und Gelehrsamkeit man auch darauf verwendet, bleibt immer ein unwissenschaft¬
liches Unternehmen und führt zu keinem bleibenden Resultat. Auf welche Weise
die Theologie sich speculativ weiter bildet, daS muß ihr überlassen bleiben;
sobald man aber zu Philosophiren behauptet, muß man der Wissenschaft Rech¬
nung ablegen.

Von den beiden vorliegenden Schriften ist die von Weiße ungleich geist¬
voller, gelehrter, inhaltreicher, obgleich wir gern einige Mäßigung der weit¬
schweifigen Form gewünscht hätten; aber auch sie ist keine wahre Bereicherung
in der Erkenntniß des Christenthums, denn sie geht nicht davon aus, was
aller Geschichte zu Grunde liegen muß d. h. sie scheidet nicht das, was sie
weiß, von dem, was sie nicht weiß; sie cinalysirt nicht, sondern sie sängt mit
der Synthese an und von diesem Erwerb des Wissens gilt das alte Sprichwort:
Wie gewonnen, so zerronnen.




Korrespondenzen.
Aus Konstantinopel.

-- Ueber kein Verhältniß hat man im
Abendlande eine unrichtigere Meinung, wie über das türkische Parteiwesen. Man ist
schnell bereit, unsre occidentalischen Begriffe auf dasselbe anzuwenden.

Die Interessen des Westens sind von ihrer unmittelbaren Gebundenheit an die
Person erlöst und an etwas Höheres, Allgemeineres angekettet, es regieren die
Ideen, Ideale, Principien. Wol hat man sich auch bei uns großen Individuali¬
täten hingegeben und die Massen haben sich von ihnen oft scheinbar willenlos und
ohne Bewußtsein über das Geschehende leiten lassen; aber doch immer nur
dann, wenn diese aufragenden Gestalten die Repräsentanten nicht nur' ihres eignen
Egoismus, soudern auch eiuer Idee waren. Nicht so im Orient, wo die leitenden
Gedanken, wie sie denn einerseits selten zur abendländischen Klarheit gedeihen, es
außerdem lieben, sich dem Fassungsvermögen der großen Menge zu entziehen und
mehr unter der Oberfläche der historischen Bewegung, wie von einem geschichtlichen
Hochpunkt aus und in der Gestalt einer allsichtbaren Persönlichkeit zu wirken. Da¬
her die Macht und der Einfluß, welche hier zu allen Zeiten gewisse mystische Körper¬
schaften besessen, in den häufigsten Fällen Priesterschaften, deren Hauptstreben im
Grunde genommen auf nichts Andres gerichtet war, als daraus, ihre Corporatious-
iuteresscn, also den directesten Ausfluß ihrer Selbstsucht, zu fördern und das Volk
lediglich zu deren Vortheil auszubeuten.

Die Gewalt der Priesterschaften und ähnlicher Korporationen im Morgenlande


man nicht weiß, kann man daran denken, die Lücken dieses Gemäldes durch
speculative Conjectur auszufüllen, die freilich auch den Gesetzen der Wissen¬
schaft folgen muß. Jeder andre Weg, schneller zum Ziel zu gelangen, indem
man die naturalistische Spekulation durch die kirchliche Legende und das Dogma
durch den philosophischen Gedanken durchklingen läßt, so viel Geist, Scharfsinn
und Gelehrsamkeit man auch darauf verwendet, bleibt immer ein unwissenschaft¬
liches Unternehmen und führt zu keinem bleibenden Resultat. Auf welche Weise
die Theologie sich speculativ weiter bildet, daS muß ihr überlassen bleiben;
sobald man aber zu Philosophiren behauptet, muß man der Wissenschaft Rech¬
nung ablegen.

Von den beiden vorliegenden Schriften ist die von Weiße ungleich geist¬
voller, gelehrter, inhaltreicher, obgleich wir gern einige Mäßigung der weit¬
schweifigen Form gewünscht hätten; aber auch sie ist keine wahre Bereicherung
in der Erkenntniß des Christenthums, denn sie geht nicht davon aus, was
aller Geschichte zu Grunde liegen muß d. h. sie scheidet nicht das, was sie
weiß, von dem, was sie nicht weiß; sie cinalysirt nicht, sondern sie sängt mit
der Synthese an und von diesem Erwerb des Wissens gilt das alte Sprichwort:
Wie gewonnen, so zerronnen.




Korrespondenzen.
Aus Konstantinopel.

— Ueber kein Verhältniß hat man im
Abendlande eine unrichtigere Meinung, wie über das türkische Parteiwesen. Man ist
schnell bereit, unsre occidentalischen Begriffe auf dasselbe anzuwenden.

Die Interessen des Westens sind von ihrer unmittelbaren Gebundenheit an die
Person erlöst und an etwas Höheres, Allgemeineres angekettet, es regieren die
Ideen, Ideale, Principien. Wol hat man sich auch bei uns großen Individuali¬
täten hingegeben und die Massen haben sich von ihnen oft scheinbar willenlos und
ohne Bewußtsein über das Geschehende leiten lassen; aber doch immer nur
dann, wenn diese aufragenden Gestalten die Repräsentanten nicht nur' ihres eignen
Egoismus, soudern auch eiuer Idee waren. Nicht so im Orient, wo die leitenden
Gedanken, wie sie denn einerseits selten zur abendländischen Klarheit gedeihen, es
außerdem lieben, sich dem Fassungsvermögen der großen Menge zu entziehen und
mehr unter der Oberfläche der historischen Bewegung, wie von einem geschichtlichen
Hochpunkt aus und in der Gestalt einer allsichtbaren Persönlichkeit zu wirken. Da¬
her die Macht und der Einfluß, welche hier zu allen Zeiten gewisse mystische Körper¬
schaften besessen, in den häufigsten Fällen Priesterschaften, deren Hauptstreben im
Grunde genommen auf nichts Andres gerichtet war, als daraus, ihre Corporatious-
iuteresscn, also den directesten Ausfluß ihrer Selbstsucht, zu fördern und das Volk
lediglich zu deren Vortheil auszubeuten.

Die Gewalt der Priesterschaften und ähnlicher Korporationen im Morgenlande


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 14, 1855, II. Semester. IV. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341580_100453/444>, abgerufen am 27.04.2024.