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Die Grenzboten. Jg. 14, 1855, II. Semester. IV. Band.

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Georges Sand.

Iliülsire ac in" vie. 1.1--11. IZeuxt-IIes Le I^eip/iA, ki!es8ling, Sobnee Ä ^omp.

Indem wir jetzt die Denkwürdigkeiten der berühmten Dichterin vollstän¬
dig vor uns haben, können wir uns der Bemerkung nicht erwehren, daß es
für den Ruhm derselben vielleicht besser gewesen wäre, wenn sie dieselben nicht
geschrieben hätte. Wir finden viele geistvolle Bemerkungen darin, vieles aus
dem Privatleben und dem allgemeinen Leben der Zeit, das uns interessirt,
aber eigentlich nichts, was uns zum Verständniß der poetischen Entwicklung
G. Sands unentbehrlich wäre, und dagegen sehr vieles, was ein zartfühlendes
Weib nie hätte schreiben sollen. Gewiß ist G, Sand ehrlich zu Werke ge¬
gangen; sie hat sich nicht besser darstellen wollen, als sie ist. und sie hat
wissentlich keinem Menschen Unrecht gethan; aber ihre Bildung ist doch nicht
so frei, daß sie durchweg objectiv sein könnte. Jndiscretionen sind eigentlich
nur dann zu entschuldigen, wenn sie nothwendig sind. Daß sie also über das
Verhältniß zu ihrem Manne mehr erzählt, als man sonst schicklicherweise zu
erzählen Pflegt, mag gerechtfertigt sein, da das Verhältniß einmal derOcffent-
lichkeit ausgestellt war; aber wen im Publicum gehen die übrigen Familien¬
glieder, die Mutter, die Großmutter, die Schwiegermutter, die Kinder u. f. w.
etwas an? Wir sind fest davon überzeugt, daß ihre Mutter wirklich der Satan
war, den sie uns schildert; aber hat denn eine Tochter jemals die Verpflich¬
tung oder das Recht, aus eine so schonungslose Weise die Schwächen ihrer
Mutter zu enthüllen? Eine solche Schilderung wird durch die fortwährend
eingestreute Versicherung von der heißen, leidenschaftlichen Liebe zu ihrer
Mutter keineswegs gut gemacht, und wenn G. Sand mehrfach versichert, sie
könnte noch viel schlimmere Dinge erzählen, wenn sie wollte, so gibt das der
Sache auch kein besseres Licht. Daß ihr Bruder ein Trunkenbold war und
im Säuferwahnsinn endete, mag auf ihr Verhältniß zu ihrem Mann schädlich
eingewirkt und so zu ihrer Entwicklung beigetragen haben, aber wir können
uns nicht helfen, eine Schwester darf von dem Bruder so etwas doch nicht
erzählen; und so ist fast jedes Porträt ihrer lebenden und todten Freunde eine
Indiscretion, und diese Indiscretion wird dadurch gar nicht gebessert, daß man


Grenzboten. IV. 18!5S. 61
Georges Sand.

Iliülsire ac in» vie. 1.1—11. IZeuxt-IIes Le I^eip/iA, ki!es8ling, Sobnee Ä ^omp.

Indem wir jetzt die Denkwürdigkeiten der berühmten Dichterin vollstän¬
dig vor uns haben, können wir uns der Bemerkung nicht erwehren, daß es
für den Ruhm derselben vielleicht besser gewesen wäre, wenn sie dieselben nicht
geschrieben hätte. Wir finden viele geistvolle Bemerkungen darin, vieles aus
dem Privatleben und dem allgemeinen Leben der Zeit, das uns interessirt,
aber eigentlich nichts, was uns zum Verständniß der poetischen Entwicklung
G. Sands unentbehrlich wäre, und dagegen sehr vieles, was ein zartfühlendes
Weib nie hätte schreiben sollen. Gewiß ist G, Sand ehrlich zu Werke ge¬
gangen; sie hat sich nicht besser darstellen wollen, als sie ist. und sie hat
wissentlich keinem Menschen Unrecht gethan; aber ihre Bildung ist doch nicht
so frei, daß sie durchweg objectiv sein könnte. Jndiscretionen sind eigentlich
nur dann zu entschuldigen, wenn sie nothwendig sind. Daß sie also über das
Verhältniß zu ihrem Manne mehr erzählt, als man sonst schicklicherweise zu
erzählen Pflegt, mag gerechtfertigt sein, da das Verhältniß einmal derOcffent-
lichkeit ausgestellt war; aber wen im Publicum gehen die übrigen Familien¬
glieder, die Mutter, die Großmutter, die Schwiegermutter, die Kinder u. f. w.
etwas an? Wir sind fest davon überzeugt, daß ihre Mutter wirklich der Satan
war, den sie uns schildert; aber hat denn eine Tochter jemals die Verpflich¬
tung oder das Recht, aus eine so schonungslose Weise die Schwächen ihrer
Mutter zu enthüllen? Eine solche Schilderung wird durch die fortwährend
eingestreute Versicherung von der heißen, leidenschaftlichen Liebe zu ihrer
Mutter keineswegs gut gemacht, und wenn G. Sand mehrfach versichert, sie
könnte noch viel schlimmere Dinge erzählen, wenn sie wollte, so gibt das der
Sache auch kein besseres Licht. Daß ihr Bruder ein Trunkenbold war und
im Säuferwahnsinn endete, mag auf ihr Verhältniß zu ihrem Mann schädlich
eingewirkt und so zu ihrer Entwicklung beigetragen haben, aber wir können
uns nicht helfen, eine Schwester darf von dem Bruder so etwas doch nicht
erzählen; und so ist fast jedes Porträt ihrer lebenden und todten Freunde eine
Indiscretion, und diese Indiscretion wird dadurch gar nicht gebessert, daß man


Grenzboten. IV. 18!5S. 61
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[0489] Georges Sand. Iliülsire ac in» vie. 1.1—11. IZeuxt-IIes Le I^eip/iA, ki!es8ling, Sobnee Ä ^omp. Indem wir jetzt die Denkwürdigkeiten der berühmten Dichterin vollstän¬ dig vor uns haben, können wir uns der Bemerkung nicht erwehren, daß es für den Ruhm derselben vielleicht besser gewesen wäre, wenn sie dieselben nicht geschrieben hätte. Wir finden viele geistvolle Bemerkungen darin, vieles aus dem Privatleben und dem allgemeinen Leben der Zeit, das uns interessirt, aber eigentlich nichts, was uns zum Verständniß der poetischen Entwicklung G. Sands unentbehrlich wäre, und dagegen sehr vieles, was ein zartfühlendes Weib nie hätte schreiben sollen. Gewiß ist G, Sand ehrlich zu Werke ge¬ gangen; sie hat sich nicht besser darstellen wollen, als sie ist. und sie hat wissentlich keinem Menschen Unrecht gethan; aber ihre Bildung ist doch nicht so frei, daß sie durchweg objectiv sein könnte. Jndiscretionen sind eigentlich nur dann zu entschuldigen, wenn sie nothwendig sind. Daß sie also über das Verhältniß zu ihrem Manne mehr erzählt, als man sonst schicklicherweise zu erzählen Pflegt, mag gerechtfertigt sein, da das Verhältniß einmal derOcffent- lichkeit ausgestellt war; aber wen im Publicum gehen die übrigen Familien¬ glieder, die Mutter, die Großmutter, die Schwiegermutter, die Kinder u. f. w. etwas an? Wir sind fest davon überzeugt, daß ihre Mutter wirklich der Satan war, den sie uns schildert; aber hat denn eine Tochter jemals die Verpflich¬ tung oder das Recht, aus eine so schonungslose Weise die Schwächen ihrer Mutter zu enthüllen? Eine solche Schilderung wird durch die fortwährend eingestreute Versicherung von der heißen, leidenschaftlichen Liebe zu ihrer Mutter keineswegs gut gemacht, und wenn G. Sand mehrfach versichert, sie könnte noch viel schlimmere Dinge erzählen, wenn sie wollte, so gibt das der Sache auch kein besseres Licht. Daß ihr Bruder ein Trunkenbold war und im Säuferwahnsinn endete, mag auf ihr Verhältniß zu ihrem Mann schädlich eingewirkt und so zu ihrer Entwicklung beigetragen haben, aber wir können uns nicht helfen, eine Schwester darf von dem Bruder so etwas doch nicht erzählen; und so ist fast jedes Porträt ihrer lebenden und todten Freunde eine Indiscretion, und diese Indiscretion wird dadurch gar nicht gebessert, daß man Grenzboten. IV. 18!5S. 61

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 14, 1855, II. Semester. IV. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341580_100453/489>, abgerufen am 28.04.2024.