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Die Grenzboten. Jg. 14, 1855, I. Semester. I. Band.

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verwerflich, um so verwerflicher, wenn sie sich auf bestimmte, der Zeit ungehörige
Gebrechen einläßt. Will die Poesie die Kehrseite des Lebens darstellen, so
muß sie dasselbe zu einem komischen, humoristischen Ideal undichten. Die
Poesie soll uns frei machen, uns erheben, sei es nun durch tragische Erschüt¬
terung oder durch phantastischen Scherz; aber sie soll uns nicht peinigen, uns
nicht in den Schmuz des Lebens Herabdrücken, aus dem wir uns eben in das
heitere Asyl der Kunst flüchten wollen. Ernsthaft gegen die Krebsschäden der
Zeit anzukämpfen, ist das Geschäft der Kritik. Wem die glückliche Gabe der
Gestaltung verliehen wurde, der soll uns das Schone darstellen. Es ist mit der
Beziehung auf die Zeit noch ein weiterer Uebelstand verknüpft, den die Dichterin
selbst gefühlt hat. "Ist es an und für sich ein mißlich Ding," sagt sie S. 109,
"wenn die Figuren einer Dichtung nur Abschriften bestimmter Individualitäten
sind, weil ihnen diese Manier deS Darstellens jede typische Bedeutung nimmt,
und die Gefahr, an die Caricattir oder an die Häßlichkeit des Daguerevtyps
zu stoßen, dabei kaum vermeidlich ist, so wird ein solcher Versuch doppelt be¬
denklich, wenn leidenschaftliche Abneigung oder Vorliebe die Feder führen,
und das eigne Ich des Schriftstellers in den Rahmen der Dichtung hinein¬
gezogen wird."

Fanny Lewald hat die Gebrechen der Zeit richtig erkannt, und daS ist ein
wichtiger, ein nicht zu umgehender Fortschritt; allein sie möge nun bei dem¬
selben nicht stehen bleiben, sie möge im Gegentheil darnach streben, soweit ihre
Einsicht es zuläßt und ihr Talent ausreicht, uns diesem Morast fauler Em¬
pfindungen zu entziehen und uns eine poetische Welt vor Augen zu stellen,
eine Welt, in der eS durchaus nicht musterhaft herzugehen braucht, in der wir
aber doch wenigstens dieser siechen, unkräftigen Komödiantcnwirthschaft ent¬
fliehen, die jeder wahren Empfindung, jedes nachhaltigen Gedankens, jedes
starken Entschlusses unfähig ist. --




Correspondenzen.
Frankfurt a. M

, -- Des Schreibens ungewohnt und noch un¬
gewohnter, Geschriebenes von mir gedruckt zu sehen, bitte ich Sie um Ausnahme
dieser Zeilen, ohne Ihnen dazu rathen zu können. Denn welches Interesse kaun
Frankfurt, welches der besondere Gegenstand für Sie und Ihre Leser haben, der mich
zur Feder greisen läßt? Frankfurt macht, das ist notorisch, im Winter jedem
Langeweile, dem das Talent abgeht, seinen selbstständigen Beitrag dazu zu liefern,
und hat im Sommer die Annehmlichkeit, daß man ihm leicht entkommen kann.
Geld gibts hier, und daß dieses alles, nur keinen Geist, verleiht, brauche ich Ihnen


verwerflich, um so verwerflicher, wenn sie sich auf bestimmte, der Zeit ungehörige
Gebrechen einläßt. Will die Poesie die Kehrseite des Lebens darstellen, so
muß sie dasselbe zu einem komischen, humoristischen Ideal undichten. Die
Poesie soll uns frei machen, uns erheben, sei es nun durch tragische Erschüt¬
terung oder durch phantastischen Scherz; aber sie soll uns nicht peinigen, uns
nicht in den Schmuz des Lebens Herabdrücken, aus dem wir uns eben in das
heitere Asyl der Kunst flüchten wollen. Ernsthaft gegen die Krebsschäden der
Zeit anzukämpfen, ist das Geschäft der Kritik. Wem die glückliche Gabe der
Gestaltung verliehen wurde, der soll uns das Schone darstellen. Es ist mit der
Beziehung auf die Zeit noch ein weiterer Uebelstand verknüpft, den die Dichterin
selbst gefühlt hat. „Ist es an und für sich ein mißlich Ding," sagt sie S. 109,
„wenn die Figuren einer Dichtung nur Abschriften bestimmter Individualitäten
sind, weil ihnen diese Manier deS Darstellens jede typische Bedeutung nimmt,
und die Gefahr, an die Caricattir oder an die Häßlichkeit des Daguerevtyps
zu stoßen, dabei kaum vermeidlich ist, so wird ein solcher Versuch doppelt be¬
denklich, wenn leidenschaftliche Abneigung oder Vorliebe die Feder führen,
und das eigne Ich des Schriftstellers in den Rahmen der Dichtung hinein¬
gezogen wird."

Fanny Lewald hat die Gebrechen der Zeit richtig erkannt, und daS ist ein
wichtiger, ein nicht zu umgehender Fortschritt; allein sie möge nun bei dem¬
selben nicht stehen bleiben, sie möge im Gegentheil darnach streben, soweit ihre
Einsicht es zuläßt und ihr Talent ausreicht, uns diesem Morast fauler Em¬
pfindungen zu entziehen und uns eine poetische Welt vor Augen zu stellen,
eine Welt, in der eS durchaus nicht musterhaft herzugehen braucht, in der wir
aber doch wenigstens dieser siechen, unkräftigen Komödiantcnwirthschaft ent¬
fliehen, die jeder wahren Empfindung, jedes nachhaltigen Gedankens, jedes
starken Entschlusses unfähig ist. —




Correspondenzen.
Frankfurt a. M

, — Des Schreibens ungewohnt und noch un¬
gewohnter, Geschriebenes von mir gedruckt zu sehen, bitte ich Sie um Ausnahme
dieser Zeilen, ohne Ihnen dazu rathen zu können. Denn welches Interesse kaun
Frankfurt, welches der besondere Gegenstand für Sie und Ihre Leser haben, der mich
zur Feder greisen läßt? Frankfurt macht, das ist notorisch, im Winter jedem
Langeweile, dem das Talent abgeht, seinen selbstständigen Beitrag dazu zu liefern,
und hat im Sommer die Annehmlichkeit, daß man ihm leicht entkommen kann.
Geld gibts hier, und daß dieses alles, nur keinen Geist, verleiht, brauche ich Ihnen


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[0472] verwerflich, um so verwerflicher, wenn sie sich auf bestimmte, der Zeit ungehörige Gebrechen einläßt. Will die Poesie die Kehrseite des Lebens darstellen, so muß sie dasselbe zu einem komischen, humoristischen Ideal undichten. Die Poesie soll uns frei machen, uns erheben, sei es nun durch tragische Erschüt¬ terung oder durch phantastischen Scherz; aber sie soll uns nicht peinigen, uns nicht in den Schmuz des Lebens Herabdrücken, aus dem wir uns eben in das heitere Asyl der Kunst flüchten wollen. Ernsthaft gegen die Krebsschäden der Zeit anzukämpfen, ist das Geschäft der Kritik. Wem die glückliche Gabe der Gestaltung verliehen wurde, der soll uns das Schone darstellen. Es ist mit der Beziehung auf die Zeit noch ein weiterer Uebelstand verknüpft, den die Dichterin selbst gefühlt hat. „Ist es an und für sich ein mißlich Ding," sagt sie S. 109, „wenn die Figuren einer Dichtung nur Abschriften bestimmter Individualitäten sind, weil ihnen diese Manier deS Darstellens jede typische Bedeutung nimmt, und die Gefahr, an die Caricattir oder an die Häßlichkeit des Daguerevtyps zu stoßen, dabei kaum vermeidlich ist, so wird ein solcher Versuch doppelt be¬ denklich, wenn leidenschaftliche Abneigung oder Vorliebe die Feder führen, und das eigne Ich des Schriftstellers in den Rahmen der Dichtung hinein¬ gezogen wird." Fanny Lewald hat die Gebrechen der Zeit richtig erkannt, und daS ist ein wichtiger, ein nicht zu umgehender Fortschritt; allein sie möge nun bei dem¬ selben nicht stehen bleiben, sie möge im Gegentheil darnach streben, soweit ihre Einsicht es zuläßt und ihr Talent ausreicht, uns diesem Morast fauler Em¬ pfindungen zu entziehen und uns eine poetische Welt vor Augen zu stellen, eine Welt, in der eS durchaus nicht musterhaft herzugehen braucht, in der wir aber doch wenigstens dieser siechen, unkräftigen Komödiantcnwirthschaft ent¬ fliehen, die jeder wahren Empfindung, jedes nachhaltigen Gedankens, jedes starken Entschlusses unfähig ist. — Correspondenzen. Frankfurt a. M , — Des Schreibens ungewohnt und noch un¬ gewohnter, Geschriebenes von mir gedruckt zu sehen, bitte ich Sie um Ausnahme dieser Zeilen, ohne Ihnen dazu rathen zu können. Denn welches Interesse kaun Frankfurt, welches der besondere Gegenstand für Sie und Ihre Leser haben, der mich zur Feder greisen läßt? Frankfurt macht, das ist notorisch, im Winter jedem Langeweile, dem das Talent abgeht, seinen selbstständigen Beitrag dazu zu liefern, und hat im Sommer die Annehmlichkeit, daß man ihm leicht entkommen kann. Geld gibts hier, und daß dieses alles, nur keinen Geist, verleiht, brauche ich Ihnen

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 14, 1855, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341580_98851/472>, abgerufen am 06.05.2024.