Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 14, 1855, I. Semester. II. Band.

Bild:
<< vorherige Seite

zu besitzen, denen vielleicht wieder die großen Eigenschaften von selten fehlen-
Daher ist denn der jetzt so häufig angestellte Vergleich zwischen Kaulbach und
Cornelius höchst unfruchtbar. Man sollte sich vielmehr freuen, daß die Exi¬
stenz zweier so großer und so verschiedener Geister in einer Kunstperiode ihr
die Möglichkeit so hoher Blüte gibt.




Der MlirmonenstM Deseret.
-

Kaum weniger lehrreich und interessant, aber auch kaum weniger räthselhaft
als die Erscheinungen auf dem Gebiete des politischen Treibens in Amerika
sind für ein europäisches Auge die Begebenheiten und Zustände aus dem Felde
seines religiösen Lebens. Ja das chaotische, widerspruchsvolle, unreife und
hastige Wesen, welches jenes charakterisirt, tritt an diesem noch um vieles deut¬
licher und verletzender zutage. Nichts verstößt so sehr gegen die gewöhnlichen
Begriffe von dem, was möglich ist, nichts schlägt der Bildung des neunzehn¬
ten Jahrhunderts so sehr in die Augen, daß es in diesen Kreisen nicht Aus¬
sicht hätte, sich im weitesten Umfange geltend zu machen.

Wenn wir hier einen gesunden Verstand mit einer kranken Phantasie gepaart
und die Ehe beider mit Kindern lebensfähiger Art gesegnet finden, so mag das nicht
eben verwunderlich sein. Wenn wir dort Speculanten begegnen, die in Offen¬
barungen machen, wie andre in Eisenbahnactien, Pökelfleisch und Baumwolle, so
mag dies bei einem Handelsvolke erklärlich sein und Manchem selbst wohlgethan
erscheinen. Wenn da ein Grübelkopf sich in das Pünkrchen über einem I hinein¬
arbeitet und solange daran bläst und baut, zieht und zimmert, bis eine neue
Welt daraus geworden ist, so ist auch das nichts Neues unter der Sonne.
Mehr befremden dagegen kann es, wenn wir solchen und ähnlichen Propheten
Massen von Menschen zufallen und auf die Dauer anhangen sehen, die im
gewöhnlichen Handel und Wandel sich der besten Sinne erfreuen. Noch er¬
staunlicher muß es erscheinen, wenn hier, wo die Selbstregierung bis zur
Grenze des Möglichen ausgebildet ist und die schrankenloseste Freibeit von allen
als Palladium geehrt und eifersüchtig gehütet wird, Tausende sich von Priestern
in Fesseln schlagen lassen, die bei weitem drückender sind, als die, welche Rom
den Völkern deS Mittelalters anlegen durfte. Völlig unbegreiflich endlich ist
es auf den ersten Blick, daß eine Erscheinung, ^die alle die angedeuteten Wider-
sinnigkeiten des amerikanischen Sektenwesens in sich vereinigt, nicht blos
Bestand gehabt hat, sondern sogar von Erfolgen der glänzendsten Art begleitet
gewesen ist.


zu besitzen, denen vielleicht wieder die großen Eigenschaften von selten fehlen-
Daher ist denn der jetzt so häufig angestellte Vergleich zwischen Kaulbach und
Cornelius höchst unfruchtbar. Man sollte sich vielmehr freuen, daß die Exi¬
stenz zweier so großer und so verschiedener Geister in einer Kunstperiode ihr
die Möglichkeit so hoher Blüte gibt.




Der MlirmonenstM Deseret.
-

Kaum weniger lehrreich und interessant, aber auch kaum weniger räthselhaft
als die Erscheinungen auf dem Gebiete des politischen Treibens in Amerika
sind für ein europäisches Auge die Begebenheiten und Zustände aus dem Felde
seines religiösen Lebens. Ja das chaotische, widerspruchsvolle, unreife und
hastige Wesen, welches jenes charakterisirt, tritt an diesem noch um vieles deut¬
licher und verletzender zutage. Nichts verstößt so sehr gegen die gewöhnlichen
Begriffe von dem, was möglich ist, nichts schlägt der Bildung des neunzehn¬
ten Jahrhunderts so sehr in die Augen, daß es in diesen Kreisen nicht Aus¬
sicht hätte, sich im weitesten Umfange geltend zu machen.

Wenn wir hier einen gesunden Verstand mit einer kranken Phantasie gepaart
und die Ehe beider mit Kindern lebensfähiger Art gesegnet finden, so mag das nicht
eben verwunderlich sein. Wenn wir dort Speculanten begegnen, die in Offen¬
barungen machen, wie andre in Eisenbahnactien, Pökelfleisch und Baumwolle, so
mag dies bei einem Handelsvolke erklärlich sein und Manchem selbst wohlgethan
erscheinen. Wenn da ein Grübelkopf sich in das Pünkrchen über einem I hinein¬
arbeitet und solange daran bläst und baut, zieht und zimmert, bis eine neue
Welt daraus geworden ist, so ist auch das nichts Neues unter der Sonne.
Mehr befremden dagegen kann es, wenn wir solchen und ähnlichen Propheten
Massen von Menschen zufallen und auf die Dauer anhangen sehen, die im
gewöhnlichen Handel und Wandel sich der besten Sinne erfreuen. Noch er¬
staunlicher muß es erscheinen, wenn hier, wo die Selbstregierung bis zur
Grenze des Möglichen ausgebildet ist und die schrankenloseste Freibeit von allen
als Palladium geehrt und eifersüchtig gehütet wird, Tausende sich von Priestern
in Fesseln schlagen lassen, die bei weitem drückender sind, als die, welche Rom
den Völkern deS Mittelalters anlegen durfte. Völlig unbegreiflich endlich ist
es auf den ersten Blick, daß eine Erscheinung, ^die alle die angedeuteten Wider-
sinnigkeiten des amerikanischen Sektenwesens in sich vereinigt, nicht blos
Bestand gehabt hat, sondern sogar von Erfolgen der glänzendsten Art begleitet
gewesen ist.


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0022" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/99408"/>
          <p xml:id="ID_52" prev="#ID_51"> zu besitzen, denen vielleicht wieder die großen Eigenschaften von selten fehlen-<lb/>
Daher ist denn der jetzt so häufig angestellte Vergleich zwischen Kaulbach und<lb/>
Cornelius höchst unfruchtbar. Man sollte sich vielmehr freuen, daß die Exi¬<lb/>
stenz zweier so großer und so verschiedener Geister in einer Kunstperiode ihr<lb/>
die Möglichkeit so hoher Blüte gibt.</p><lb/>
          <milestone rendition="#hr" unit="section"/><lb/>
        </div>
        <div n="1">
          <head> Der MlirmonenstM Deseret.</head><lb/>
          <div n="2">
            <head>  -</head><lb/>
            <p xml:id="ID_53"> Kaum weniger lehrreich und interessant, aber auch kaum weniger räthselhaft<lb/>
als die Erscheinungen auf dem Gebiete des politischen Treibens in Amerika<lb/>
sind für ein europäisches Auge die Begebenheiten und Zustände aus dem Felde<lb/>
seines religiösen Lebens. Ja das chaotische, widerspruchsvolle, unreife und<lb/>
hastige Wesen, welches jenes charakterisirt, tritt an diesem noch um vieles deut¬<lb/>
licher und verletzender zutage. Nichts verstößt so sehr gegen die gewöhnlichen<lb/>
Begriffe von dem, was möglich ist, nichts schlägt der Bildung des neunzehn¬<lb/>
ten Jahrhunderts so sehr in die Augen, daß es in diesen Kreisen nicht Aus¬<lb/>
sicht hätte, sich im weitesten Umfange geltend zu machen.</p><lb/>
            <p xml:id="ID_54"> Wenn wir hier einen gesunden Verstand mit einer kranken Phantasie gepaart<lb/>
und die Ehe beider mit Kindern lebensfähiger Art gesegnet finden, so mag das nicht<lb/>
eben verwunderlich sein. Wenn wir dort Speculanten begegnen, die in Offen¬<lb/>
barungen machen, wie andre in Eisenbahnactien, Pökelfleisch und Baumwolle, so<lb/>
mag dies bei einem Handelsvolke erklärlich sein und Manchem selbst wohlgethan<lb/>
erscheinen. Wenn da ein Grübelkopf sich in das Pünkrchen über einem I hinein¬<lb/>
arbeitet und solange daran bläst und baut, zieht und zimmert, bis eine neue<lb/>
Welt daraus geworden ist, so ist auch das nichts Neues unter der Sonne.<lb/>
Mehr befremden dagegen kann es, wenn wir solchen und ähnlichen Propheten<lb/>
Massen von Menschen zufallen und auf die Dauer anhangen sehen, die im<lb/>
gewöhnlichen Handel und Wandel sich der besten Sinne erfreuen. Noch er¬<lb/>
staunlicher muß es erscheinen, wenn hier, wo die Selbstregierung bis zur<lb/>
Grenze des Möglichen ausgebildet ist und die schrankenloseste Freibeit von allen<lb/>
als Palladium geehrt und eifersüchtig gehütet wird, Tausende sich von Priestern<lb/>
in Fesseln schlagen lassen, die bei weitem drückender sind, als die, welche Rom<lb/>
den Völkern deS Mittelalters anlegen durfte. Völlig unbegreiflich endlich ist<lb/>
es auf den ersten Blick, daß eine Erscheinung, ^die alle die angedeuteten Wider-<lb/>
sinnigkeiten des amerikanischen Sektenwesens in sich vereinigt, nicht blos<lb/>
Bestand gehabt hat, sondern sogar von Erfolgen der glänzendsten Art begleitet<lb/>
gewesen ist.</p><lb/>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0022] zu besitzen, denen vielleicht wieder die großen Eigenschaften von selten fehlen- Daher ist denn der jetzt so häufig angestellte Vergleich zwischen Kaulbach und Cornelius höchst unfruchtbar. Man sollte sich vielmehr freuen, daß die Exi¬ stenz zweier so großer und so verschiedener Geister in einer Kunstperiode ihr die Möglichkeit so hoher Blüte gibt. Der MlirmonenstM Deseret. - Kaum weniger lehrreich und interessant, aber auch kaum weniger räthselhaft als die Erscheinungen auf dem Gebiete des politischen Treibens in Amerika sind für ein europäisches Auge die Begebenheiten und Zustände aus dem Felde seines religiösen Lebens. Ja das chaotische, widerspruchsvolle, unreife und hastige Wesen, welches jenes charakterisirt, tritt an diesem noch um vieles deut¬ licher und verletzender zutage. Nichts verstößt so sehr gegen die gewöhnlichen Begriffe von dem, was möglich ist, nichts schlägt der Bildung des neunzehn¬ ten Jahrhunderts so sehr in die Augen, daß es in diesen Kreisen nicht Aus¬ sicht hätte, sich im weitesten Umfange geltend zu machen. Wenn wir hier einen gesunden Verstand mit einer kranken Phantasie gepaart und die Ehe beider mit Kindern lebensfähiger Art gesegnet finden, so mag das nicht eben verwunderlich sein. Wenn wir dort Speculanten begegnen, die in Offen¬ barungen machen, wie andre in Eisenbahnactien, Pökelfleisch und Baumwolle, so mag dies bei einem Handelsvolke erklärlich sein und Manchem selbst wohlgethan erscheinen. Wenn da ein Grübelkopf sich in das Pünkrchen über einem I hinein¬ arbeitet und solange daran bläst und baut, zieht und zimmert, bis eine neue Welt daraus geworden ist, so ist auch das nichts Neues unter der Sonne. Mehr befremden dagegen kann es, wenn wir solchen und ähnlichen Propheten Massen von Menschen zufallen und auf die Dauer anhangen sehen, die im gewöhnlichen Handel und Wandel sich der besten Sinne erfreuen. Noch er¬ staunlicher muß es erscheinen, wenn hier, wo die Selbstregierung bis zur Grenze des Möglichen ausgebildet ist und die schrankenloseste Freibeit von allen als Palladium geehrt und eifersüchtig gehütet wird, Tausende sich von Priestern in Fesseln schlagen lassen, die bei weitem drückender sind, als die, welche Rom den Völkern deS Mittelalters anlegen durfte. Völlig unbegreiflich endlich ist es auf den ersten Blick, daß eine Erscheinung, ^die alle die angedeuteten Wider- sinnigkeiten des amerikanischen Sektenwesens in sich vereinigt, nicht blos Bestand gehabt hat, sondern sogar von Erfolgen der glänzendsten Art begleitet gewesen ist.

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341580_99385
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341580_99385/22
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 14, 1855, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341580_99385/22>, abgerufen am 06.05.2024.