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Die Grenzboten. Jg. 14, 1855, I. Semester. II. Band.

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Wilhelm Meister im Verhältniß zu unsrer Zeit.

Von allen Werken Goethe's hat, wenn wir die lyrischen Gedichte aus-
nehmen, keines einen so unmittelbaren Einfluß auf die deutsche Literatur
ausgeübt, als der Wilhelm Meister. Seine Dramen sind angestaunt und in
Beziehung auf die einzelnen darin enthaltenen Gedanken und Empfindungen
auch wol in die Herzen aufgenommen worden, aber eigentliche Nachbildungen
haben sie wenig hervorgerufen. Wilhelm Meister dagegen ist das Vorbild
fast der gesammten Romanliteratur, und wenn wir es uns genau versinnlichen
wollen, wie die neuere Zeit von unserer classischen Dichtungsperiode abweicht,
so gewährt dieser Roman den angemessensten Haltpunkt.

In früherer Zeit, wo man den sittlichen Gesetzen arglos gegenüberstand,
harte man im Roman nichts weniger gesucht, als eine Schilderung deS wirk¬
lichen Lebens; man dachte sich vielmehr wie im Märchen eine eigne poetische
Welt aus, verliebte Schäfer, Ritter, Räuber, Wilde, oder was sonst der Zeit¬
geschmack mit sich brachte. Seitdem man aber anfing, über das Verhältniß
der innern zur äußern Welt zu reflectiren, stieß das Gefühl, das sich nun
zuerst in seiner Berechtigung begriff und gewissermaßen anstaunte, überall ans
Schranken, die es einengten, auf Herkommen, Vorurtheile, sittliche Ueberliefe¬
rungen und Gesetze. Bald gewann es den Muth, die Giltigkeit derselben in
Frage zu stellen, und benutzte den Roman zur Kritik des wirklichen Lebens.

Wie sich die Kunst überall einer im Volk bereits vorhandenen Neigung
anschließt, so entlehnte auch der deutsche Roman das leitende Motiv aus der
pietistische" Schönseeligkeit, welche damals der letzte Nest der in allen ihren
größer" Erscheinungen verkümmerten Religiosität war. Die Empfindsamkeit,
die in der Wertherperiode den Leitton bildet, war nichts Anderes als der auf
weltliche Dinge angewandte Pietismus. In diese Richtung gehören noch die
Bekenntnisse einer schönen Seele, die Goethe nach seiner Art aus irgend einer
wunderlichen Laune dem Wilhelm Meister einverleibte. Nie wird man die
Kunst dieser wunderbar reizenden Darstellung zu hoch anschlagen können. Der
Dichter stellt ohne weiteren persönlichen Antheil, als den der Neugierde eines
Naturforschers bei einer außergewöhnlichen Erscheinung, die seltsamen Be-


Grenzboten. Il- ->8so. ^ 56
Wilhelm Meister im Verhältniß zu unsrer Zeit.

Von allen Werken Goethe's hat, wenn wir die lyrischen Gedichte aus-
nehmen, keines einen so unmittelbaren Einfluß auf die deutsche Literatur
ausgeübt, als der Wilhelm Meister. Seine Dramen sind angestaunt und in
Beziehung auf die einzelnen darin enthaltenen Gedanken und Empfindungen
auch wol in die Herzen aufgenommen worden, aber eigentliche Nachbildungen
haben sie wenig hervorgerufen. Wilhelm Meister dagegen ist das Vorbild
fast der gesammten Romanliteratur, und wenn wir es uns genau versinnlichen
wollen, wie die neuere Zeit von unserer classischen Dichtungsperiode abweicht,
so gewährt dieser Roman den angemessensten Haltpunkt.

In früherer Zeit, wo man den sittlichen Gesetzen arglos gegenüberstand,
harte man im Roman nichts weniger gesucht, als eine Schilderung deS wirk¬
lichen Lebens; man dachte sich vielmehr wie im Märchen eine eigne poetische
Welt aus, verliebte Schäfer, Ritter, Räuber, Wilde, oder was sonst der Zeit¬
geschmack mit sich brachte. Seitdem man aber anfing, über das Verhältniß
der innern zur äußern Welt zu reflectiren, stieß das Gefühl, das sich nun
zuerst in seiner Berechtigung begriff und gewissermaßen anstaunte, überall ans
Schranken, die es einengten, auf Herkommen, Vorurtheile, sittliche Ueberliefe¬
rungen und Gesetze. Bald gewann es den Muth, die Giltigkeit derselben in
Frage zu stellen, und benutzte den Roman zur Kritik des wirklichen Lebens.

Wie sich die Kunst überall einer im Volk bereits vorhandenen Neigung
anschließt, so entlehnte auch der deutsche Roman das leitende Motiv aus der
pietistische» Schönseeligkeit, welche damals der letzte Nest der in allen ihren
größer» Erscheinungen verkümmerten Religiosität war. Die Empfindsamkeit,
die in der Wertherperiode den Leitton bildet, war nichts Anderes als der auf
weltliche Dinge angewandte Pietismus. In diese Richtung gehören noch die
Bekenntnisse einer schönen Seele, die Goethe nach seiner Art aus irgend einer
wunderlichen Laune dem Wilhelm Meister einverleibte. Nie wird man die
Kunst dieser wunderbar reizenden Darstellung zu hoch anschlagen können. Der
Dichter stellt ohne weiteren persönlichen Antheil, als den der Neugierde eines
Naturforschers bei einer außergewöhnlichen Erscheinung, die seltsamen Be-


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[0449] Wilhelm Meister im Verhältniß zu unsrer Zeit. Von allen Werken Goethe's hat, wenn wir die lyrischen Gedichte aus- nehmen, keines einen so unmittelbaren Einfluß auf die deutsche Literatur ausgeübt, als der Wilhelm Meister. Seine Dramen sind angestaunt und in Beziehung auf die einzelnen darin enthaltenen Gedanken und Empfindungen auch wol in die Herzen aufgenommen worden, aber eigentliche Nachbildungen haben sie wenig hervorgerufen. Wilhelm Meister dagegen ist das Vorbild fast der gesammten Romanliteratur, und wenn wir es uns genau versinnlichen wollen, wie die neuere Zeit von unserer classischen Dichtungsperiode abweicht, so gewährt dieser Roman den angemessensten Haltpunkt. In früherer Zeit, wo man den sittlichen Gesetzen arglos gegenüberstand, harte man im Roman nichts weniger gesucht, als eine Schilderung deS wirk¬ lichen Lebens; man dachte sich vielmehr wie im Märchen eine eigne poetische Welt aus, verliebte Schäfer, Ritter, Räuber, Wilde, oder was sonst der Zeit¬ geschmack mit sich brachte. Seitdem man aber anfing, über das Verhältniß der innern zur äußern Welt zu reflectiren, stieß das Gefühl, das sich nun zuerst in seiner Berechtigung begriff und gewissermaßen anstaunte, überall ans Schranken, die es einengten, auf Herkommen, Vorurtheile, sittliche Ueberliefe¬ rungen und Gesetze. Bald gewann es den Muth, die Giltigkeit derselben in Frage zu stellen, und benutzte den Roman zur Kritik des wirklichen Lebens. Wie sich die Kunst überall einer im Volk bereits vorhandenen Neigung anschließt, so entlehnte auch der deutsche Roman das leitende Motiv aus der pietistische» Schönseeligkeit, welche damals der letzte Nest der in allen ihren größer» Erscheinungen verkümmerten Religiosität war. Die Empfindsamkeit, die in der Wertherperiode den Leitton bildet, war nichts Anderes als der auf weltliche Dinge angewandte Pietismus. In diese Richtung gehören noch die Bekenntnisse einer schönen Seele, die Goethe nach seiner Art aus irgend einer wunderlichen Laune dem Wilhelm Meister einverleibte. Nie wird man die Kunst dieser wunderbar reizenden Darstellung zu hoch anschlagen können. Der Dichter stellt ohne weiteren persönlichen Antheil, als den der Neugierde eines Naturforschers bei einer außergewöhnlichen Erscheinung, die seltsamen Be- Grenzboten. Il- ->8so. ^ 56

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 14, 1855, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341580_99385/449>, abgerufen am 06.05.2024.