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Die Grenzboten. Jg. 14, 1855, I. Semester. II. Band.

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Hmmoversche Zustände.

An der Verfassung des Königreichs Hannover vom !>. Sept. -1848 ist seit
Ende des Jahres 1831 bestündig herumgefühlt worden, um die Seite zu ermitteln,
von der sie am leichtesten angreifbar ist. Endlich am -19. Mai -i83L hat
Herr von Lütcken mit Hilfe eines Bundesbeschlusses die ersten Steine des
Gewölbes herausgehoben.

Je tendenziöser die Gegner der Verfassung auftreten, desto vorurteilsfreier,
umsichtiger und praktischer haben sich die Freunde derselben zu halten.

Am schädlichsten wirkte unstreitig in der ganzen Angelegenheit die fast
vierjährige Ungewißheit. Der Ministerwechsel brachte sie und jedes Mal waren
die Cabinete mühsamer zu bilden und jede leidliche Uebereinstimmung im
Schoße derselben mußte allmälig genügen, um die Departements nur voll¬
ständig zu besetzen. Woher sollten die neuen Männer am Staatsruder jedes
Mal Halt, Kraft und Erfahrung nehmen? Es fehlte ihnen stets die argwohn¬
lose Wechselwirkung mit dem Landtage und die ungetrübte Organisationslust,
um statt an den Verfassungsparagraphen ihren Witz zu versuchen, an die Auf¬
besserung der Landeözustände unmittelbar zu denken. Am schwächsten in seiner
Zusammensetzung ist das gegenwärtige Ministerium, weil nach fünf gründlichen
Ministerwechseln seit -1818 allmälig Mangel an geeigneten, d. h. tüchtigen und
zugleich in den Streitpunkten entweder hinreichend vorurtheilsvoller oder in¬
differenten Männer eintrat. Nur der Ministerpräsident hat im bestehenden
Cabinet staatsmännischen Blick und entsprechenden einseitigen Eifer, um die
Verfassungsfrage allein in die Hand zu nehmen. Sämmtliche Collegen wurden
von ihm nicht ohne Mühe aus zum Theil verborgenen'Stellungen hervor¬
gesucht und sind Männer, welche sich streng an Form und Vorschrift ihres
Vorsitzenden halten. Man regiert deshalb in oberster Sta'atsstelle, wie es
provinziellen Verhältnissen wahrscheinlich angemessener sein würde.

Diese Zustände verdanken wir unsrer unliebenswürdigen Ritterschaft, deren
SelbstschÄtzung vielfach größer ist, als ihre Kenntnisse von der Heimath, ihre
politische Einsicht und ihr Patriotismus. Mit wenigen rühmlichen Ausnahmen
hat dieselbe seit -I8-IL niemals das Vaterland, aber stets das Standesinteresse
im Auge gehabt. Stets kam es nur darauf an, die theuern Eremtionen zu
schützen und die einträglichen Staatsstellen als Vorrecht des Adels zu wahren.
Als bevorzugter Stand hatte man sich möglichst erclusiv und hochmüthig be¬
wiesen. Mit Widerstreben fügte man sich der unvermeidlichen Ablösung der
Grundlasten; man seufzte lange über Einbuße der Steuerfreiheit, trotzdem, daß
sie wahrhaft glänzende Entschädigung einbrachte.

Als daher König Ernst August -1837 das Staatsgrundgesetz beseitigte,


Hmmoversche Zustände.

An der Verfassung des Königreichs Hannover vom !>. Sept. -1848 ist seit
Ende des Jahres 1831 bestündig herumgefühlt worden, um die Seite zu ermitteln,
von der sie am leichtesten angreifbar ist. Endlich am -19. Mai -i83L hat
Herr von Lütcken mit Hilfe eines Bundesbeschlusses die ersten Steine des
Gewölbes herausgehoben.

Je tendenziöser die Gegner der Verfassung auftreten, desto vorurteilsfreier,
umsichtiger und praktischer haben sich die Freunde derselben zu halten.

Am schädlichsten wirkte unstreitig in der ganzen Angelegenheit die fast
vierjährige Ungewißheit. Der Ministerwechsel brachte sie und jedes Mal waren
die Cabinete mühsamer zu bilden und jede leidliche Uebereinstimmung im
Schoße derselben mußte allmälig genügen, um die Departements nur voll¬
ständig zu besetzen. Woher sollten die neuen Männer am Staatsruder jedes
Mal Halt, Kraft und Erfahrung nehmen? Es fehlte ihnen stets die argwohn¬
lose Wechselwirkung mit dem Landtage und die ungetrübte Organisationslust,
um statt an den Verfassungsparagraphen ihren Witz zu versuchen, an die Auf¬
besserung der Landeözustände unmittelbar zu denken. Am schwächsten in seiner
Zusammensetzung ist das gegenwärtige Ministerium, weil nach fünf gründlichen
Ministerwechseln seit -1818 allmälig Mangel an geeigneten, d. h. tüchtigen und
zugleich in den Streitpunkten entweder hinreichend vorurtheilsvoller oder in¬
differenten Männer eintrat. Nur der Ministerpräsident hat im bestehenden
Cabinet staatsmännischen Blick und entsprechenden einseitigen Eifer, um die
Verfassungsfrage allein in die Hand zu nehmen. Sämmtliche Collegen wurden
von ihm nicht ohne Mühe aus zum Theil verborgenen'Stellungen hervor¬
gesucht und sind Männer, welche sich streng an Form und Vorschrift ihres
Vorsitzenden halten. Man regiert deshalb in oberster Sta'atsstelle, wie es
provinziellen Verhältnissen wahrscheinlich angemessener sein würde.

Diese Zustände verdanken wir unsrer unliebenswürdigen Ritterschaft, deren
SelbstschÄtzung vielfach größer ist, als ihre Kenntnisse von der Heimath, ihre
politische Einsicht und ihr Patriotismus. Mit wenigen rühmlichen Ausnahmen
hat dieselbe seit -I8-IL niemals das Vaterland, aber stets das Standesinteresse
im Auge gehabt. Stets kam es nur darauf an, die theuern Eremtionen zu
schützen und die einträglichen Staatsstellen als Vorrecht des Adels zu wahren.
Als bevorzugter Stand hatte man sich möglichst erclusiv und hochmüthig be¬
wiesen. Mit Widerstreben fügte man sich der unvermeidlichen Ablösung der
Grundlasten; man seufzte lange über Einbuße der Steuerfreiheit, trotzdem, daß
sie wahrhaft glänzende Entschädigung einbrachte.

Als daher König Ernst August -1837 das Staatsgrundgesetz beseitigte,


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[0464] Hmmoversche Zustände. An der Verfassung des Königreichs Hannover vom !>. Sept. -1848 ist seit Ende des Jahres 1831 bestündig herumgefühlt worden, um die Seite zu ermitteln, von der sie am leichtesten angreifbar ist. Endlich am -19. Mai -i83L hat Herr von Lütcken mit Hilfe eines Bundesbeschlusses die ersten Steine des Gewölbes herausgehoben. Je tendenziöser die Gegner der Verfassung auftreten, desto vorurteilsfreier, umsichtiger und praktischer haben sich die Freunde derselben zu halten. Am schädlichsten wirkte unstreitig in der ganzen Angelegenheit die fast vierjährige Ungewißheit. Der Ministerwechsel brachte sie und jedes Mal waren die Cabinete mühsamer zu bilden und jede leidliche Uebereinstimmung im Schoße derselben mußte allmälig genügen, um die Departements nur voll¬ ständig zu besetzen. Woher sollten die neuen Männer am Staatsruder jedes Mal Halt, Kraft und Erfahrung nehmen? Es fehlte ihnen stets die argwohn¬ lose Wechselwirkung mit dem Landtage und die ungetrübte Organisationslust, um statt an den Verfassungsparagraphen ihren Witz zu versuchen, an die Auf¬ besserung der Landeözustände unmittelbar zu denken. Am schwächsten in seiner Zusammensetzung ist das gegenwärtige Ministerium, weil nach fünf gründlichen Ministerwechseln seit -1818 allmälig Mangel an geeigneten, d. h. tüchtigen und zugleich in den Streitpunkten entweder hinreichend vorurtheilsvoller oder in¬ differenten Männer eintrat. Nur der Ministerpräsident hat im bestehenden Cabinet staatsmännischen Blick und entsprechenden einseitigen Eifer, um die Verfassungsfrage allein in die Hand zu nehmen. Sämmtliche Collegen wurden von ihm nicht ohne Mühe aus zum Theil verborgenen'Stellungen hervor¬ gesucht und sind Männer, welche sich streng an Form und Vorschrift ihres Vorsitzenden halten. Man regiert deshalb in oberster Sta'atsstelle, wie es provinziellen Verhältnissen wahrscheinlich angemessener sein würde. Diese Zustände verdanken wir unsrer unliebenswürdigen Ritterschaft, deren SelbstschÄtzung vielfach größer ist, als ihre Kenntnisse von der Heimath, ihre politische Einsicht und ihr Patriotismus. Mit wenigen rühmlichen Ausnahmen hat dieselbe seit -I8-IL niemals das Vaterland, aber stets das Standesinteresse im Auge gehabt. Stets kam es nur darauf an, die theuern Eremtionen zu schützen und die einträglichen Staatsstellen als Vorrecht des Adels zu wahren. Als bevorzugter Stand hatte man sich möglichst erclusiv und hochmüthig be¬ wiesen. Mit Widerstreben fügte man sich der unvermeidlichen Ablösung der Grundlasten; man seufzte lange über Einbuße der Steuerfreiheit, trotzdem, daß sie wahrhaft glänzende Entschädigung einbrachte. Als daher König Ernst August -1837 das Staatsgrundgesetz beseitigte,

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 14, 1855, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341580_99385/464>, abgerufen am 05.05.2024.