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Die Grenzboten. Jg. 14, 1855, I. Semester. II. Band.

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Der Mormonenstaat Deseret.

Die Grundlage des Glaubens der Mormonen, ans den wir jetzt einen
Blick thun, besteht zunächst in der Bibel, dem Buche Mormon und dem Buche
der Lehre und der Bündnisse. Da sie aber eine fortdauernde Offenbarung des
Willens und der Weisheit Gottes durch das Mittel ihres Sehers und Kirchen¬
hauptes annehmen, so ist ihre Dogmatik nur eine provisorische, und die folgende
Darstellung gibt deshalb nur einen Ueberblick über den Glauben der Sekte,
wie er bis heute ausgebildet ist.

Ist der Staat der Mormonen, wie später zu zeigen sein wird, eine
Theodemokratie, so ist ihre Religion nicht wol anders als durch eine andre
Contradictio in Adjecto, nämlich durch die Bezeichnung Mono-Polytheismus
zu beschreiben. Man wende nicht ein, daß dies ein Unding sei, im Reiche
der Willkür und der Wunder hat der Verstand kein Recht, und das Wunder
besteht ja eben darin, daß ein Widerspruch kein Widerspruch ist. Wir schöpfen
im Folgenden vorzüglich aus den Schriften Orson Pratts, des angesehensten
Dogmatikers der Sekte.

Die Welt wird nach den neuesten Offenbarungen von einem Haupt- oder
Urgotte regiert, welcher inmitten des Universums auf dem Planeten Kolob
thront. Dieser Urgott ist auf geheimnißvolle Weise aus den beiden durch sich
selbst eristirenden, Principien der Intelligenz und der Materie entstanden. Das
erste, das er that, war, daß er ein Grundgesetz aufstellte, zu dessen Bestimmungen
es gehörte, daß eine Verschiedenheit der Geschlechter sei. Nach dieser Bestim¬
mung gingen aus ihm andre Götter theils als Söhne, theils als Töchter hervor,
um wieder andre Götter männlichen und weiblichen Geschlechts zu erzeugen.
Jedem Gotte ist eine bestimmte Sphäre oder, um deutlicher zu reden, ein be¬
stimmter Stern oder Planet angewiesen, den er zu beherrschen und -- zu be¬
völkern hat. Ist ein Weltkörper in dem Grade mit den Kindern des Gottes
angefüllt, daß er sie nicht mehr bergen und nähren kann, so schafft er einen
neuen Stern, nach welchem die Geister der jungen Götter als Bewohner ge¬
sendet werden. Diese verehren dann, das Bewußtsein ihrer Göttlichkeit mit


Grcnzbote". II. I8litt. 11
Der Mormonenstaat Deseret.

Die Grundlage des Glaubens der Mormonen, ans den wir jetzt einen
Blick thun, besteht zunächst in der Bibel, dem Buche Mormon und dem Buche
der Lehre und der Bündnisse. Da sie aber eine fortdauernde Offenbarung des
Willens und der Weisheit Gottes durch das Mittel ihres Sehers und Kirchen¬
hauptes annehmen, so ist ihre Dogmatik nur eine provisorische, und die folgende
Darstellung gibt deshalb nur einen Ueberblick über den Glauben der Sekte,
wie er bis heute ausgebildet ist.

Ist der Staat der Mormonen, wie später zu zeigen sein wird, eine
Theodemokratie, so ist ihre Religion nicht wol anders als durch eine andre
Contradictio in Adjecto, nämlich durch die Bezeichnung Mono-Polytheismus
zu beschreiben. Man wende nicht ein, daß dies ein Unding sei, im Reiche
der Willkür und der Wunder hat der Verstand kein Recht, und das Wunder
besteht ja eben darin, daß ein Widerspruch kein Widerspruch ist. Wir schöpfen
im Folgenden vorzüglich aus den Schriften Orson Pratts, des angesehensten
Dogmatikers der Sekte.

Die Welt wird nach den neuesten Offenbarungen von einem Haupt- oder
Urgotte regiert, welcher inmitten des Universums auf dem Planeten Kolob
thront. Dieser Urgott ist auf geheimnißvolle Weise aus den beiden durch sich
selbst eristirenden, Principien der Intelligenz und der Materie entstanden. Das
erste, das er that, war, daß er ein Grundgesetz aufstellte, zu dessen Bestimmungen
es gehörte, daß eine Verschiedenheit der Geschlechter sei. Nach dieser Bestim¬
mung gingen aus ihm andre Götter theils als Söhne, theils als Töchter hervor,
um wieder andre Götter männlichen und weiblichen Geschlechts zu erzeugen.
Jedem Gotte ist eine bestimmte Sphäre oder, um deutlicher zu reden, ein be¬
stimmter Stern oder Planet angewiesen, den er zu beherrschen und — zu be¬
völkern hat. Ist ein Weltkörper in dem Grade mit den Kindern des Gottes
angefüllt, daß er sie nicht mehr bergen und nähren kann, so schafft er einen
neuen Stern, nach welchem die Geister der jungen Götter als Bewohner ge¬
sendet werden. Diese verehren dann, das Bewußtsein ihrer Göttlichkeit mit


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[0089] Der Mormonenstaat Deseret. Die Grundlage des Glaubens der Mormonen, ans den wir jetzt einen Blick thun, besteht zunächst in der Bibel, dem Buche Mormon und dem Buche der Lehre und der Bündnisse. Da sie aber eine fortdauernde Offenbarung des Willens und der Weisheit Gottes durch das Mittel ihres Sehers und Kirchen¬ hauptes annehmen, so ist ihre Dogmatik nur eine provisorische, und die folgende Darstellung gibt deshalb nur einen Ueberblick über den Glauben der Sekte, wie er bis heute ausgebildet ist. Ist der Staat der Mormonen, wie später zu zeigen sein wird, eine Theodemokratie, so ist ihre Religion nicht wol anders als durch eine andre Contradictio in Adjecto, nämlich durch die Bezeichnung Mono-Polytheismus zu beschreiben. Man wende nicht ein, daß dies ein Unding sei, im Reiche der Willkür und der Wunder hat der Verstand kein Recht, und das Wunder besteht ja eben darin, daß ein Widerspruch kein Widerspruch ist. Wir schöpfen im Folgenden vorzüglich aus den Schriften Orson Pratts, des angesehensten Dogmatikers der Sekte. Die Welt wird nach den neuesten Offenbarungen von einem Haupt- oder Urgotte regiert, welcher inmitten des Universums auf dem Planeten Kolob thront. Dieser Urgott ist auf geheimnißvolle Weise aus den beiden durch sich selbst eristirenden, Principien der Intelligenz und der Materie entstanden. Das erste, das er that, war, daß er ein Grundgesetz aufstellte, zu dessen Bestimmungen es gehörte, daß eine Verschiedenheit der Geschlechter sei. Nach dieser Bestim¬ mung gingen aus ihm andre Götter theils als Söhne, theils als Töchter hervor, um wieder andre Götter männlichen und weiblichen Geschlechts zu erzeugen. Jedem Gotte ist eine bestimmte Sphäre oder, um deutlicher zu reden, ein be¬ stimmter Stern oder Planet angewiesen, den er zu beherrschen und — zu be¬ völkern hat. Ist ein Weltkörper in dem Grade mit den Kindern des Gottes angefüllt, daß er sie nicht mehr bergen und nähren kann, so schafft er einen neuen Stern, nach welchem die Geister der jungen Götter als Bewohner ge¬ sendet werden. Diese verehren dann, das Bewußtsein ihrer Göttlichkeit mit Grcnzbote». II. I8litt. 11

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 14, 1855, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341580_99385/89>, abgerufen am 06.05.2024.