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Die Grenzboten. Jg. 14, 1855, II. Semester. III. Band.

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Philosophie und Naturwissenschaft.

Wenn es auch zuweilen den Anschein haben will, als ob seit einem Jahr-
zehent die Spekulation in Deutschland um allen Credit gekommen wäre, so
zeigen doch fortwährend neue Versuche, daß man die Hoffnung, auf diesem
Wege zur Wahrheit zu dringen, noch immer nicht aufgegeben hat, daß man
nur noch nicht darüber ins Klare kommen kann, in welcher Art dieser Weg
am sichersten zum Ziele führt. Bei der immer größern Ausdehnung der natur¬
wissenschaftlichen Studien ist es begreiflich, daß man sich zunächst bemüht,
hier anzuknüpfen und so sehen wir denn auch den meisten neuen philosophischen
Systemen naturwissenschaftliche Notizen zu Grunde gelegt. Gewiß wird sich
das Meiste von diesen neuen Versuchen als unzulänglich erweisen, indeß
scheint es doch der Mühe werth, Act davon zu nehmen. -- Unter den neuen
Schriften dieser Gattung erwähnen wir zunächst:

Neue Darstellung des Sensualismus. Ein Entwurf von Heinrich Czolbe,
or. meat. Leipzig, Costenovle. --

Der Versasser erklärt als das Grundprincip des Sensualismus: eben¬
dasselbe durch sinnlich klare oder lichtvolle Begriffe, Urtheile und Schlüsse
innerlich schauen zu wollen, wofür die speculative Philosophie nur übersinn¬
liche Annahmen oder dunkle Worte hat. Das ist gewiß ein sehr löbliches
Princip und wird von aller Welt gebilligt werden, selbst von den Theologen,
von denen der Versasser mit Recht bemerkt, sie seien von den dunkeln Worten
der Offenbarung nicht befriedigt und hofften dereinst zu schauen, was ihnen
hier unklar war. Allein wenn eine Wissenschaft das ernstliche Bestreben hat,
nur mit klaren Begriffen zu operiren, so sollte sie sich vorher genau darüber
prüfen, welche Begriffe ihr zur Klarheit geworden sind und welche nicht; mit
andern Worten, was sie weiß und was sie nicht weiß. Diese strenge Prüfung
scheint aber der vorliegende Sensualismus noch nicht angestellt zu haben. Er
beginnt z. B. das Capitel über Materie und Raum mit folgendem Satz:
"Aus zahlreichen physikalischen und chemischen Erscheinungen darf man schließen,
daß alle Körper aus unsichtbar kleinen Theilchen bestehen, welche ausgedehnt,


Grenzboten. III- -1866. 46
Philosophie und Naturwissenschaft.

Wenn es auch zuweilen den Anschein haben will, als ob seit einem Jahr-
zehent die Spekulation in Deutschland um allen Credit gekommen wäre, so
zeigen doch fortwährend neue Versuche, daß man die Hoffnung, auf diesem
Wege zur Wahrheit zu dringen, noch immer nicht aufgegeben hat, daß man
nur noch nicht darüber ins Klare kommen kann, in welcher Art dieser Weg
am sichersten zum Ziele führt. Bei der immer größern Ausdehnung der natur¬
wissenschaftlichen Studien ist es begreiflich, daß man sich zunächst bemüht,
hier anzuknüpfen und so sehen wir denn auch den meisten neuen philosophischen
Systemen naturwissenschaftliche Notizen zu Grunde gelegt. Gewiß wird sich
das Meiste von diesen neuen Versuchen als unzulänglich erweisen, indeß
scheint es doch der Mühe werth, Act davon zu nehmen. — Unter den neuen
Schriften dieser Gattung erwähnen wir zunächst:

Neue Darstellung des Sensualismus. Ein Entwurf von Heinrich Czolbe,
or. meat. Leipzig, Costenovle. —

Der Versasser erklärt als das Grundprincip des Sensualismus: eben¬
dasselbe durch sinnlich klare oder lichtvolle Begriffe, Urtheile und Schlüsse
innerlich schauen zu wollen, wofür die speculative Philosophie nur übersinn¬
liche Annahmen oder dunkle Worte hat. Das ist gewiß ein sehr löbliches
Princip und wird von aller Welt gebilligt werden, selbst von den Theologen,
von denen der Versasser mit Recht bemerkt, sie seien von den dunkeln Worten
der Offenbarung nicht befriedigt und hofften dereinst zu schauen, was ihnen
hier unklar war. Allein wenn eine Wissenschaft das ernstliche Bestreben hat,
nur mit klaren Begriffen zu operiren, so sollte sie sich vorher genau darüber
prüfen, welche Begriffe ihr zur Klarheit geworden sind und welche nicht; mit
andern Worten, was sie weiß und was sie nicht weiß. Diese strenge Prüfung
scheint aber der vorliegende Sensualismus noch nicht angestellt zu haben. Er
beginnt z. B. das Capitel über Materie und Raum mit folgendem Satz:
„Aus zahlreichen physikalischen und chemischen Erscheinungen darf man schließen,
daß alle Körper aus unsichtbar kleinen Theilchen bestehen, welche ausgedehnt,


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[0369] Philosophie und Naturwissenschaft. Wenn es auch zuweilen den Anschein haben will, als ob seit einem Jahr- zehent die Spekulation in Deutschland um allen Credit gekommen wäre, so zeigen doch fortwährend neue Versuche, daß man die Hoffnung, auf diesem Wege zur Wahrheit zu dringen, noch immer nicht aufgegeben hat, daß man nur noch nicht darüber ins Klare kommen kann, in welcher Art dieser Weg am sichersten zum Ziele führt. Bei der immer größern Ausdehnung der natur¬ wissenschaftlichen Studien ist es begreiflich, daß man sich zunächst bemüht, hier anzuknüpfen und so sehen wir denn auch den meisten neuen philosophischen Systemen naturwissenschaftliche Notizen zu Grunde gelegt. Gewiß wird sich das Meiste von diesen neuen Versuchen als unzulänglich erweisen, indeß scheint es doch der Mühe werth, Act davon zu nehmen. — Unter den neuen Schriften dieser Gattung erwähnen wir zunächst: Neue Darstellung des Sensualismus. Ein Entwurf von Heinrich Czolbe, or. meat. Leipzig, Costenovle. — Der Versasser erklärt als das Grundprincip des Sensualismus: eben¬ dasselbe durch sinnlich klare oder lichtvolle Begriffe, Urtheile und Schlüsse innerlich schauen zu wollen, wofür die speculative Philosophie nur übersinn¬ liche Annahmen oder dunkle Worte hat. Das ist gewiß ein sehr löbliches Princip und wird von aller Welt gebilligt werden, selbst von den Theologen, von denen der Versasser mit Recht bemerkt, sie seien von den dunkeln Worten der Offenbarung nicht befriedigt und hofften dereinst zu schauen, was ihnen hier unklar war. Allein wenn eine Wissenschaft das ernstliche Bestreben hat, nur mit klaren Begriffen zu operiren, so sollte sie sich vorher genau darüber prüfen, welche Begriffe ihr zur Klarheit geworden sind und welche nicht; mit andern Worten, was sie weiß und was sie nicht weiß. Diese strenge Prüfung scheint aber der vorliegende Sensualismus noch nicht angestellt zu haben. Er beginnt z. B. das Capitel über Materie und Raum mit folgendem Satz: „Aus zahlreichen physikalischen und chemischen Erscheinungen darf man schließen, daß alle Körper aus unsichtbar kleinen Theilchen bestehen, welche ausgedehnt, Grenzboten. III- -1866. 46

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 14, 1855, II. Semester. III. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341580_99919/369>, abgerufen am 01.05.2024.