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Die Grenzboten. Jg. 15, 1856, I. Semester. I. Band.

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Geschwister verkrochen sich, seine Geliebte war ihm untreu geworden'und hatte
einen andern geheirathet, nur das Mutterherz fand aus der verwilderten Gestalt
den Sohn heraus. Aber auch sein späteres Leben in dem einsamen Thal wurde
durch die Abenteuer dieser Zeit gestört. Es war ein fremdes, unheimliches Element
in ihn gekommen, reizbare Unruhe, Begehrlichkeit und Entwöhnung stetiger
Arbeit. Wir werden so wenig als er sell'se seine Desertion als ein moralisches
Unrecht verurtheilen; durch Betrug uno empörenden Zwang zur Fahne geschleppt,
ohne ein gemüthliches Interesse an dem Kampf, in den er geschleudert worden
war, wie sollte da ein Gefühl der Pflicht in einer sonst gut gearteten und fein¬
fühlende" Natur erwachsen? -- Hierüber möge sein Schicksal, das, verglichen
mit dem Geschick andrer, die ein ähnliches Unheil traf, immer noch zu den
günstigsten geHorte, als ein Beispiel gelten, wie die Gewaltthätigkeit der
Staatsraison vor hundert Jahren mit dem Leben, der Freiheit und dem Lebens-
glück der Einzelnen geschaltet hat.




Korrespondenzen.
Pariser Brief.

-- Wen" Sie dieses Schreibe" erhalten ist wieder ein
Jahr der Geschichte anheimgefallen, ein Jahr so reich a" Ereignisse", so "mannig¬
faltig a" Erscheinungen, die de" menschliche" Geist interessiren, daß es keine leichte
A"fgabe ist, auch nur in summarischer Uebersicht eine" vollständige" Begriff von
dem Zuhalte dieses kurze" Zeitabschnitts der Geschichte der Gegenwart zu geben.
Die Bedeutung des verflossenen Jahres liegt in großen Ereignissen wie in kleinen
Zufälligkeiten, in Einzelheiten, welche dem befangenen Auge des Zeitgenossen ent¬
gehen oder die bei ihrer idealen Beschaffenheit vor stärker auftretenden, geräusch¬
voller sich kundgebenden Thatsachen augenblicklich in den Hintergrund treten.

Dieses Jahr des Krieges, der Krankheit und der Noth hatte "och Thatkraft
genug, die Blüten des weuschliche" Fleißes ""d der europäischen Kunst zu hoher
Entfaltung zu bringen, der Versöhnung lange entzweiter Nationen einen unver-
löschlichem Ausdruck zu geben. Wir finden in dieser Gleichzeitigkeit von sonst Un¬
vereinbarem den wesentlichen Charakter einer neuen Zeit, die zum ersten Male prak¬
tisch zur Erscheinung kommt. Das Vorrecht des Kriegers, unter dessen gewichtigen
Tritte sonst alles geistige Leben verkümmern mußte, allein das Interesse und die
Theilnahme der Welt in Anspruch zu nehmen, so wie er ins Feld zieht, ist nicht
mehr, und trotz der Achtung, welche Männer stets erwerben werden, welche im Dienste
einer Idee oder eines allgemeinen Interesses ihr Leben einsetzen, trotz der Sympathie,
.welche wir für Tapferkeit ,ind geistige Ueberlegenheit auf dem Schlachtfelde mit
Recht hegen, unsre Gedanken haben lauge nicht mehr die beschränkte Richtung,
welche im Kriegshandwerke, und mag es mit noch so großer Virtuosität betrieben
werden, das Höchste erkennt. Unsre Anschauung hat eine wesentliche Umgestaltung
erfahren und werden wir dem tapferen Angriffe aus der eine", dem hartnäckigen
Widersta"de aus der andern Seite die Anerkennung nicht versagen, so weilen wir


Geeuzbvte". I. >8un. Is

Geschwister verkrochen sich, seine Geliebte war ihm untreu geworden'und hatte
einen andern geheirathet, nur das Mutterherz fand aus der verwilderten Gestalt
den Sohn heraus. Aber auch sein späteres Leben in dem einsamen Thal wurde
durch die Abenteuer dieser Zeit gestört. Es war ein fremdes, unheimliches Element
in ihn gekommen, reizbare Unruhe, Begehrlichkeit und Entwöhnung stetiger
Arbeit. Wir werden so wenig als er sell'se seine Desertion als ein moralisches
Unrecht verurtheilen; durch Betrug uno empörenden Zwang zur Fahne geschleppt,
ohne ein gemüthliches Interesse an dem Kampf, in den er geschleudert worden
war, wie sollte da ein Gefühl der Pflicht in einer sonst gut gearteten und fein¬
fühlende» Natur erwachsen? — Hierüber möge sein Schicksal, das, verglichen
mit dem Geschick andrer, die ein ähnliches Unheil traf, immer noch zu den
günstigsten geHorte, als ein Beispiel gelten, wie die Gewaltthätigkeit der
Staatsraison vor hundert Jahren mit dem Leben, der Freiheit und dem Lebens-
glück der Einzelnen geschaltet hat.




Korrespondenzen.
Pariser Brief.

— Wen» Sie dieses Schreibe» erhalten ist wieder ein
Jahr der Geschichte anheimgefallen, ein Jahr so reich a» Ereignisse», so »mannig¬
faltig a» Erscheinungen, die de» menschliche» Geist interessiren, daß es keine leichte
A»fgabe ist, auch nur in summarischer Uebersicht eine» vollständige» Begriff von
dem Zuhalte dieses kurze» Zeitabschnitts der Geschichte der Gegenwart zu geben.
Die Bedeutung des verflossenen Jahres liegt in großen Ereignissen wie in kleinen
Zufälligkeiten, in Einzelheiten, welche dem befangenen Auge des Zeitgenossen ent¬
gehen oder die bei ihrer idealen Beschaffenheit vor stärker auftretenden, geräusch¬
voller sich kundgebenden Thatsachen augenblicklich in den Hintergrund treten.

Dieses Jahr des Krieges, der Krankheit und der Noth hatte »och Thatkraft
genug, die Blüten des weuschliche» Fleißes »»d der europäischen Kunst zu hoher
Entfaltung zu bringen, der Versöhnung lange entzweiter Nationen einen unver-
löschlichem Ausdruck zu geben. Wir finden in dieser Gleichzeitigkeit von sonst Un¬
vereinbarem den wesentlichen Charakter einer neuen Zeit, die zum ersten Male prak¬
tisch zur Erscheinung kommt. Das Vorrecht des Kriegers, unter dessen gewichtigen
Tritte sonst alles geistige Leben verkümmern mußte, allein das Interesse und die
Theilnahme der Welt in Anspruch zu nehmen, so wie er ins Feld zieht, ist nicht
mehr, und trotz der Achtung, welche Männer stets erwerben werden, welche im Dienste
einer Idee oder eines allgemeinen Interesses ihr Leben einsetzen, trotz der Sympathie,
.welche wir für Tapferkeit ,ind geistige Ueberlegenheit auf dem Schlachtfelde mit
Recht hegen, unsre Gedanken haben lauge nicht mehr die beschränkte Richtung,
welche im Kriegshandwerke, und mag es mit noch so großer Virtuosität betrieben
werden, das Höchste erkennt. Unsre Anschauung hat eine wesentliche Umgestaltung
erfahren und werden wir dem tapferen Angriffe aus der eine», dem hartnäckigen
Widersta»de aus der andern Seite die Anerkennung nicht versagen, so weilen wir


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 15, 1856, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341584_100992/121>, abgerufen am 06.05.2024.