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Die Grenzboten. Jg. 15, 1856, I. Semester. I. Band.

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Neue epische Poesie.

Es ist charakteristisch für die veränderte Methode, poetisch zu empfinden,
daß in den letzten Jahren die Zahl der lyrischen Gedichte junger Talente auf
unserm Büchermarkt abgenommen hat und dagegen eine Zunahme kleiner epischer
Dichtungen zu bemerken ist. Während noch vor zehn Jahren der erste Schritt,
den ein Dichter in die Oeffentlichkeit that, kaum anders geschehen konnte, als
durch ein Heft Gedichte in Heines oder im schwäbischen Ton, lockt jetzt vor¬
zugsweise die glänzende Färbung, der längere Fluß und der, wenn auch lockere,
doch mit einiger Berücksichtigung des gesunden Menschenverstandes zu ordnende
Zusammenhang einer epischen Begebenheit. Die Anschauungen der Dichter
fahren nicht mehr vorzugsweise auf den kurzen Wogen subjectiver Empfindun¬
gen daher, sondern sie versuchen sich in längerer Strömung, in mehr plastischen
Bildungen. Insofern ein Streben nach größerer Realität auch dieser Richtung
zu Grunde liegt, muß sie mit Theilnahme verfolgt werden; nur ist dabei selbst
für ein nennenswerthcs Talent das Mißlingen viel bedenklicher, als bei kur¬
zen Gedichten.

Zwar war es einer jungen Dichterseele bei lyrischen Gedichten sehr schwer
geworden, die eigne Eins,, ."dung originell darzustellen. Denn die Fülle von
vorhandenen Formen, Stoffen, lyrisch zubereiteten Ideen, von Bildern und
Pointen ist gegenwärtig so groß, daß unsere poetische Sprache ganz damit ge¬
sättigt ist, und dem neuen Dichter, ohne daß er es ahnt, sich bereits in andern
Gedichten vorhandene Rhythmen, Stoffe, Gedanken und Phrasen substituiren,
so daß sein Gedicht sür den kühlen Leser in der Regel nichts Anderes wird,
als die neue Variation eines bekannten Themas. Und obgleich der Zauber,
welchen nach Schiller der Stil Uhlands und Heines ausübte, die Phantasie
der Schaffenden vorzugsweise in die Bahnen dieser Dichter zog, so haben doch
auch andere namhafte Talente der neuern Zeit, die selbst zum großen Theil
an Vötganger sich anlehnen, wie Lenau, Freiligrath, Herwegh, ähnliche über¬
mächtige Einwirkung auf Einzelne ausgeübt, und es ist interessant zu betrach¬
ten, wie die Flur der lyrischen Poesie, seit Goethes Jugend aus wenigen
starken Quellen entsprungen, in die reihenweise hintereinander aufgestellten
Schalen hiuabfließt bis zur Gegenwart. Aus einer Schale in die andere,
aus der ältern Dichterseele in die jüngere, oft anders gefärbt, durch manchen
neuen Zufluß bereichert, im Ganzen aber sich immer mehr zertheilend bis zu


Grenzboten. I. 1866. 36
Neue epische Poesie.

Es ist charakteristisch für die veränderte Methode, poetisch zu empfinden,
daß in den letzten Jahren die Zahl der lyrischen Gedichte junger Talente auf
unserm Büchermarkt abgenommen hat und dagegen eine Zunahme kleiner epischer
Dichtungen zu bemerken ist. Während noch vor zehn Jahren der erste Schritt,
den ein Dichter in die Oeffentlichkeit that, kaum anders geschehen konnte, als
durch ein Heft Gedichte in Heines oder im schwäbischen Ton, lockt jetzt vor¬
zugsweise die glänzende Färbung, der längere Fluß und der, wenn auch lockere,
doch mit einiger Berücksichtigung des gesunden Menschenverstandes zu ordnende
Zusammenhang einer epischen Begebenheit. Die Anschauungen der Dichter
fahren nicht mehr vorzugsweise auf den kurzen Wogen subjectiver Empfindun¬
gen daher, sondern sie versuchen sich in längerer Strömung, in mehr plastischen
Bildungen. Insofern ein Streben nach größerer Realität auch dieser Richtung
zu Grunde liegt, muß sie mit Theilnahme verfolgt werden; nur ist dabei selbst
für ein nennenswerthcs Talent das Mißlingen viel bedenklicher, als bei kur¬
zen Gedichten.

Zwar war es einer jungen Dichterseele bei lyrischen Gedichten sehr schwer
geworden, die eigne Eins,, .»dung originell darzustellen. Denn die Fülle von
vorhandenen Formen, Stoffen, lyrisch zubereiteten Ideen, von Bildern und
Pointen ist gegenwärtig so groß, daß unsere poetische Sprache ganz damit ge¬
sättigt ist, und dem neuen Dichter, ohne daß er es ahnt, sich bereits in andern
Gedichten vorhandene Rhythmen, Stoffe, Gedanken und Phrasen substituiren,
so daß sein Gedicht sür den kühlen Leser in der Regel nichts Anderes wird,
als die neue Variation eines bekannten Themas. Und obgleich der Zauber,
welchen nach Schiller der Stil Uhlands und Heines ausübte, die Phantasie
der Schaffenden vorzugsweise in die Bahnen dieser Dichter zog, so haben doch
auch andere namhafte Talente der neuern Zeit, die selbst zum großen Theil
an Vötganger sich anlehnen, wie Lenau, Freiligrath, Herwegh, ähnliche über¬
mächtige Einwirkung auf Einzelne ausgeübt, und es ist interessant zu betrach¬
ten, wie die Flur der lyrischen Poesie, seit Goethes Jugend aus wenigen
starken Quellen entsprungen, in die reihenweise hintereinander aufgestellten
Schalen hiuabfließt bis zur Gegenwart. Aus einer Schale in die andere,
aus der ältern Dichterseele in die jüngere, oft anders gefärbt, durch manchen
neuen Zufluß bereichert, im Ganzen aber sich immer mehr zertheilend bis zu


Grenzboten. I. 1866. 36
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[0289] Neue epische Poesie. Es ist charakteristisch für die veränderte Methode, poetisch zu empfinden, daß in den letzten Jahren die Zahl der lyrischen Gedichte junger Talente auf unserm Büchermarkt abgenommen hat und dagegen eine Zunahme kleiner epischer Dichtungen zu bemerken ist. Während noch vor zehn Jahren der erste Schritt, den ein Dichter in die Oeffentlichkeit that, kaum anders geschehen konnte, als durch ein Heft Gedichte in Heines oder im schwäbischen Ton, lockt jetzt vor¬ zugsweise die glänzende Färbung, der längere Fluß und der, wenn auch lockere, doch mit einiger Berücksichtigung des gesunden Menschenverstandes zu ordnende Zusammenhang einer epischen Begebenheit. Die Anschauungen der Dichter fahren nicht mehr vorzugsweise auf den kurzen Wogen subjectiver Empfindun¬ gen daher, sondern sie versuchen sich in längerer Strömung, in mehr plastischen Bildungen. Insofern ein Streben nach größerer Realität auch dieser Richtung zu Grunde liegt, muß sie mit Theilnahme verfolgt werden; nur ist dabei selbst für ein nennenswerthcs Talent das Mißlingen viel bedenklicher, als bei kur¬ zen Gedichten. Zwar war es einer jungen Dichterseele bei lyrischen Gedichten sehr schwer geworden, die eigne Eins,, .»dung originell darzustellen. Denn die Fülle von vorhandenen Formen, Stoffen, lyrisch zubereiteten Ideen, von Bildern und Pointen ist gegenwärtig so groß, daß unsere poetische Sprache ganz damit ge¬ sättigt ist, und dem neuen Dichter, ohne daß er es ahnt, sich bereits in andern Gedichten vorhandene Rhythmen, Stoffe, Gedanken und Phrasen substituiren, so daß sein Gedicht sür den kühlen Leser in der Regel nichts Anderes wird, als die neue Variation eines bekannten Themas. Und obgleich der Zauber, welchen nach Schiller der Stil Uhlands und Heines ausübte, die Phantasie der Schaffenden vorzugsweise in die Bahnen dieser Dichter zog, so haben doch auch andere namhafte Talente der neuern Zeit, die selbst zum großen Theil an Vötganger sich anlehnen, wie Lenau, Freiligrath, Herwegh, ähnliche über¬ mächtige Einwirkung auf Einzelne ausgeübt, und es ist interessant zu betrach¬ ten, wie die Flur der lyrischen Poesie, seit Goethes Jugend aus wenigen starken Quellen entsprungen, in die reihenweise hintereinander aufgestellten Schalen hiuabfließt bis zur Gegenwart. Aus einer Schale in die andere, aus der ältern Dichterseele in die jüngere, oft anders gefärbt, durch manchen neuen Zufluß bereichert, im Ganzen aber sich immer mehr zertheilend bis zu Grenzboten. I. 1866. 36

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 15, 1856, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341584_100992/289>, abgerufen am 06.05.2024.