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Die Grenzboten. Jg. 15, 1856, I. Semester. I. Band.

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Berliner Eindrücke.
Das Haus der Abgeordneten.

Berlin war in den letzten Wochen so reich an Hoffesten und andern Lust¬
barkeiten, die zum ersten Mal in voller Zahl versammelten Pairs des Reichs
mit ihren Angehörigen brachten in die vergnügungssüchtige Stadt so viel neue
Elemente mit, daß man der verdrießlichen Politik im Ganzen wenig gedachte,
und daß ein so bürgerliches Institut, wie die zweite Kammer, oder wie es
jetzt heißt, das Haus der Abgeordneten, im Anfang wenig Beachtung fand.
Allein das Interesse hat sich im Laufe der Zeit doch gesteigert, und als nach
glücklicher Beendigung der Faschingszeit der Schwerin'sche Antrag eine große
Scene versprach, waren die Tribünen wieder so voll, wie in den Zeiten des
bewegtesten politischen Lebens. Es scheint, daß die Verfassung, der man bis¬
her weniger Aufmerksamkeit schenkte, als sie verdiente, eine größere Theilnahme
erweckt, seitdem sie in Gefahr steht, Paragraph für Paragraph aufgehoben zu
werden. Die Debatte über jenen Antrag war recht geeignet, den Zuhörer
mitten in das Getreide der Parteien einzuführen, denn sie brachte die streiten¬
den Principien, die sich bei sämmtlichen größern Fragen geltend machen, fast
ohne Ausnahme, zum Vorschein.

Ehe ich an die Darstellung der eigentlichen Frage gehe, kann ich als
Tourist daS Bedauern nicht unterdrücken', daß die zweite Kammer mit ihrer
Standeserhöhung nicht auch eine angemessenere Ausstattung erhalten hat.
Noch immer muß man sich durch ein Labyrinth enger Gänge winden, noch
immer sitzt man im Rücken des Redners, und das angenehme Gefühl, die
sämmtlichen Herren Minister vor Augen zu haben, kann doch nicht ganz für
den Uebelstand entschädigen, daß man die Reden nicht hört. Wenn man sich
einmal die Journalistentribüne angesehen hat, wird man die Klagen über un¬
vollständige und ungenaue Zeitungsberichte gewiß für unbillig erklären und
sich nur darüber wundern, daß die Herren noch so viel verstanden haben.

Unmittelbar vor dem Ministertisch uns gegenüber ist das Centrum, welches
von den sogenannten Bethmann-Hollwegianern ausgefüllt ist, die ihren alten
Namen trotz der Abwesenheit des Führers beibehalten haben. Unmittelbar


Grenzboten. I. -I8S6. 46
Berliner Eindrücke.
Das Haus der Abgeordneten.

Berlin war in den letzten Wochen so reich an Hoffesten und andern Lust¬
barkeiten, die zum ersten Mal in voller Zahl versammelten Pairs des Reichs
mit ihren Angehörigen brachten in die vergnügungssüchtige Stadt so viel neue
Elemente mit, daß man der verdrießlichen Politik im Ganzen wenig gedachte,
und daß ein so bürgerliches Institut, wie die zweite Kammer, oder wie es
jetzt heißt, das Haus der Abgeordneten, im Anfang wenig Beachtung fand.
Allein das Interesse hat sich im Laufe der Zeit doch gesteigert, und als nach
glücklicher Beendigung der Faschingszeit der Schwerin'sche Antrag eine große
Scene versprach, waren die Tribünen wieder so voll, wie in den Zeiten des
bewegtesten politischen Lebens. Es scheint, daß die Verfassung, der man bis¬
her weniger Aufmerksamkeit schenkte, als sie verdiente, eine größere Theilnahme
erweckt, seitdem sie in Gefahr steht, Paragraph für Paragraph aufgehoben zu
werden. Die Debatte über jenen Antrag war recht geeignet, den Zuhörer
mitten in das Getreide der Parteien einzuführen, denn sie brachte die streiten¬
den Principien, die sich bei sämmtlichen größern Fragen geltend machen, fast
ohne Ausnahme, zum Vorschein.

Ehe ich an die Darstellung der eigentlichen Frage gehe, kann ich als
Tourist daS Bedauern nicht unterdrücken', daß die zweite Kammer mit ihrer
Standeserhöhung nicht auch eine angemessenere Ausstattung erhalten hat.
Noch immer muß man sich durch ein Labyrinth enger Gänge winden, noch
immer sitzt man im Rücken des Redners, und das angenehme Gefühl, die
sämmtlichen Herren Minister vor Augen zu haben, kann doch nicht ganz für
den Uebelstand entschädigen, daß man die Reden nicht hört. Wenn man sich
einmal die Journalistentribüne angesehen hat, wird man die Klagen über un¬
vollständige und ungenaue Zeitungsberichte gewiß für unbillig erklären und
sich nur darüber wundern, daß die Herren noch so viel verstanden haben.

Unmittelbar vor dem Ministertisch uns gegenüber ist das Centrum, welches
von den sogenannten Bethmann-Hollwegianern ausgefüllt ist, die ihren alten
Namen trotz der Abwesenheit des Führers beibehalten haben. Unmittelbar


Grenzboten. I. -I8S6. 46
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[0369] Berliner Eindrücke. Das Haus der Abgeordneten. Berlin war in den letzten Wochen so reich an Hoffesten und andern Lust¬ barkeiten, die zum ersten Mal in voller Zahl versammelten Pairs des Reichs mit ihren Angehörigen brachten in die vergnügungssüchtige Stadt so viel neue Elemente mit, daß man der verdrießlichen Politik im Ganzen wenig gedachte, und daß ein so bürgerliches Institut, wie die zweite Kammer, oder wie es jetzt heißt, das Haus der Abgeordneten, im Anfang wenig Beachtung fand. Allein das Interesse hat sich im Laufe der Zeit doch gesteigert, und als nach glücklicher Beendigung der Faschingszeit der Schwerin'sche Antrag eine große Scene versprach, waren die Tribünen wieder so voll, wie in den Zeiten des bewegtesten politischen Lebens. Es scheint, daß die Verfassung, der man bis¬ her weniger Aufmerksamkeit schenkte, als sie verdiente, eine größere Theilnahme erweckt, seitdem sie in Gefahr steht, Paragraph für Paragraph aufgehoben zu werden. Die Debatte über jenen Antrag war recht geeignet, den Zuhörer mitten in das Getreide der Parteien einzuführen, denn sie brachte die streiten¬ den Principien, die sich bei sämmtlichen größern Fragen geltend machen, fast ohne Ausnahme, zum Vorschein. Ehe ich an die Darstellung der eigentlichen Frage gehe, kann ich als Tourist daS Bedauern nicht unterdrücken', daß die zweite Kammer mit ihrer Standeserhöhung nicht auch eine angemessenere Ausstattung erhalten hat. Noch immer muß man sich durch ein Labyrinth enger Gänge winden, noch immer sitzt man im Rücken des Redners, und das angenehme Gefühl, die sämmtlichen Herren Minister vor Augen zu haben, kann doch nicht ganz für den Uebelstand entschädigen, daß man die Reden nicht hört. Wenn man sich einmal die Journalistentribüne angesehen hat, wird man die Klagen über un¬ vollständige und ungenaue Zeitungsberichte gewiß für unbillig erklären und sich nur darüber wundern, daß die Herren noch so viel verstanden haben. Unmittelbar vor dem Ministertisch uns gegenüber ist das Centrum, welches von den sogenannten Bethmann-Hollwegianern ausgefüllt ist, die ihren alten Namen trotz der Abwesenheit des Führers beibehalten haben. Unmittelbar Grenzboten. I. -I8S6. 46

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 15, 1856, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341584_100992/369>, abgerufen am 06.05.2024.