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Die Grenzboten. Jg. 15, 1856, II. Semester. IV. Band.

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Südwestdeutsche Briefe.
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Man kann eine rechte und volle Freude daran haben, die südwestdeutsche
Auswanderung so stark abnehmen zu sehen, daß bereits in mehren Städten
bedeutende Auswanderungsagenturen ihre Concessionen zurückgegeben haben.
Die Auswanderung des.laufenden Jahres scheint in Würtemberg, Baden und
Hessen selbst hinter der bereits im vorigen Jahre so außerordentlich zusammen'
geschmolzenen zurückbleiben zu wollen. Die kleinen Neckarboote, welche früher,
von Scheidenden überfüllt, aus Heilbronn nach Mannheim herunterschwammen,
klagen über schlechte Geschäfte; ebenso die Mainboote, welche von Würzburg
nach Mainz fahren. Freilich machen Schienenstraßen jetzt beiden Schiffahrts¬
linien Concurrenz, allein wer diese Bahnen und diejenigen Badens häufig
befährt, dem sind doch auch Scenen des Abschieds bald in zerreißenden
Schmerz, bald von gemachter Lustigkeit übertäubt, wie sie früher so häusig
vorkamen, heute nur noch eine seltene Erscheinung. Und wenn sie vorkommen,
so gilt der Abschied nicht, wie früher fast immer, ganzen auswandernden Kara-
vanen, sondern blos einzelnen, die von sehr bestimmten Ursachen und Gründen
fortgetrieben werden. Auf der Route über Mannheim-Kehl, welche für einen
größten Theil der südwestdeutschen Auswanderung einen ziemlich genauen
Maßstab abgibt, sind bis zum letzten August seit dem 1. Januar blos 3700
Auswanderer passirt. Auf andern Durchgangsstationen nach den holländischen
und deutschen Seehäfen war die absolute und relative Menge noch weiter
herabgegangen.

Freilich hat es furchtbar schwere Menschenopfer gekostet, ehe der heutige
Zustand eintrat. Rheinbaierns Bevölkerung hat vom 4. December 1852 bis
zum -I.December 1855 um 22,000 Seelen abgenommen, die des "diesseitigen"
Königreichs um etwa -18,000; das kleine Großherzogthum Hessen vermin¬
derte seine Einwohnerzahl in derselben Periode um nahe an -19,000 Men¬
schen, Kurhessen um -18,000; Baden hatte nur mit Mühe ungefähr seinen
frühern Bevölkerungsstand bewahrt, aber nicht vermehrt und namentlich in
mehren oberländischen Kreisen selbst positiv vermindert. Aehnlich erging es
Frankfurt, dessen Stadtbevölkerung -- durch Einwanderung -- zwar um 2000
anwuchs, dessen Landgemeinden dagegen über 200 Menschen weniger als -1852
zählten. Bon Würtemberg sind die Zählungsergebnisse, so viel uns bekannt,
noch ebensowenig veröffentlicht, als von Nassau; doch scheinen letztere den
oberhessischen (bei 309,617 Einwohnern eine Verminderung von etwa 10,000),
erstere den minder grellen des Königreichs Baiern ziemlich adäquat zu sein.
Welche Capitalien, ganz abgesehen von den Menschenkräften, mit diesen Auö-
wanderungsmassen dem Vaterland entzogen worden sind, dürfte wol noch


Südwestdeutsche Briefe.
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Man kann eine rechte und volle Freude daran haben, die südwestdeutsche
Auswanderung so stark abnehmen zu sehen, daß bereits in mehren Städten
bedeutende Auswanderungsagenturen ihre Concessionen zurückgegeben haben.
Die Auswanderung des.laufenden Jahres scheint in Würtemberg, Baden und
Hessen selbst hinter der bereits im vorigen Jahre so außerordentlich zusammen'
geschmolzenen zurückbleiben zu wollen. Die kleinen Neckarboote, welche früher,
von Scheidenden überfüllt, aus Heilbronn nach Mannheim herunterschwammen,
klagen über schlechte Geschäfte; ebenso die Mainboote, welche von Würzburg
nach Mainz fahren. Freilich machen Schienenstraßen jetzt beiden Schiffahrts¬
linien Concurrenz, allein wer diese Bahnen und diejenigen Badens häufig
befährt, dem sind doch auch Scenen des Abschieds bald in zerreißenden
Schmerz, bald von gemachter Lustigkeit übertäubt, wie sie früher so häusig
vorkamen, heute nur noch eine seltene Erscheinung. Und wenn sie vorkommen,
so gilt der Abschied nicht, wie früher fast immer, ganzen auswandernden Kara-
vanen, sondern blos einzelnen, die von sehr bestimmten Ursachen und Gründen
fortgetrieben werden. Auf der Route über Mannheim-Kehl, welche für einen
größten Theil der südwestdeutschen Auswanderung einen ziemlich genauen
Maßstab abgibt, sind bis zum letzten August seit dem 1. Januar blos 3700
Auswanderer passirt. Auf andern Durchgangsstationen nach den holländischen
und deutschen Seehäfen war die absolute und relative Menge noch weiter
herabgegangen.

Freilich hat es furchtbar schwere Menschenopfer gekostet, ehe der heutige
Zustand eintrat. Rheinbaierns Bevölkerung hat vom 4. December 1852 bis
zum -I.December 1855 um 22,000 Seelen abgenommen, die des „diesseitigen"
Königreichs um etwa -18,000; das kleine Großherzogthum Hessen vermin¬
derte seine Einwohnerzahl in derselben Periode um nahe an -19,000 Men¬
schen, Kurhessen um -18,000; Baden hatte nur mit Mühe ungefähr seinen
frühern Bevölkerungsstand bewahrt, aber nicht vermehrt und namentlich in
mehren oberländischen Kreisen selbst positiv vermindert. Aehnlich erging es
Frankfurt, dessen Stadtbevölkerung — durch Einwanderung — zwar um 2000
anwuchs, dessen Landgemeinden dagegen über 200 Menschen weniger als -1852
zählten. Bon Würtemberg sind die Zählungsergebnisse, so viel uns bekannt,
noch ebensowenig veröffentlicht, als von Nassau; doch scheinen letztere den
oberhessischen (bei 309,617 Einwohnern eine Verminderung von etwa 10,000),
erstere den minder grellen des Königreichs Baiern ziemlich adäquat zu sein.
Welche Capitalien, ganz abgesehen von den Menschenkräften, mit diesen Auö-
wanderungsmassen dem Vaterland entzogen worden sind, dürfte wol noch


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[0032] Südwestdeutsche Briefe. ' Man kann eine rechte und volle Freude daran haben, die südwestdeutsche Auswanderung so stark abnehmen zu sehen, daß bereits in mehren Städten bedeutende Auswanderungsagenturen ihre Concessionen zurückgegeben haben. Die Auswanderung des.laufenden Jahres scheint in Würtemberg, Baden und Hessen selbst hinter der bereits im vorigen Jahre so außerordentlich zusammen' geschmolzenen zurückbleiben zu wollen. Die kleinen Neckarboote, welche früher, von Scheidenden überfüllt, aus Heilbronn nach Mannheim herunterschwammen, klagen über schlechte Geschäfte; ebenso die Mainboote, welche von Würzburg nach Mainz fahren. Freilich machen Schienenstraßen jetzt beiden Schiffahrts¬ linien Concurrenz, allein wer diese Bahnen und diejenigen Badens häufig befährt, dem sind doch auch Scenen des Abschieds bald in zerreißenden Schmerz, bald von gemachter Lustigkeit übertäubt, wie sie früher so häusig vorkamen, heute nur noch eine seltene Erscheinung. Und wenn sie vorkommen, so gilt der Abschied nicht, wie früher fast immer, ganzen auswandernden Kara- vanen, sondern blos einzelnen, die von sehr bestimmten Ursachen und Gründen fortgetrieben werden. Auf der Route über Mannheim-Kehl, welche für einen größten Theil der südwestdeutschen Auswanderung einen ziemlich genauen Maßstab abgibt, sind bis zum letzten August seit dem 1. Januar blos 3700 Auswanderer passirt. Auf andern Durchgangsstationen nach den holländischen und deutschen Seehäfen war die absolute und relative Menge noch weiter herabgegangen. Freilich hat es furchtbar schwere Menschenopfer gekostet, ehe der heutige Zustand eintrat. Rheinbaierns Bevölkerung hat vom 4. December 1852 bis zum -I.December 1855 um 22,000 Seelen abgenommen, die des „diesseitigen" Königreichs um etwa -18,000; das kleine Großherzogthum Hessen vermin¬ derte seine Einwohnerzahl in derselben Periode um nahe an -19,000 Men¬ schen, Kurhessen um -18,000; Baden hatte nur mit Mühe ungefähr seinen frühern Bevölkerungsstand bewahrt, aber nicht vermehrt und namentlich in mehren oberländischen Kreisen selbst positiv vermindert. Aehnlich erging es Frankfurt, dessen Stadtbevölkerung — durch Einwanderung — zwar um 2000 anwuchs, dessen Landgemeinden dagegen über 200 Menschen weniger als -1852 zählten. Bon Würtemberg sind die Zählungsergebnisse, so viel uns bekannt, noch ebensowenig veröffentlicht, als von Nassau; doch scheinen letztere den oberhessischen (bei 309,617 Einwohnern eine Verminderung von etwa 10,000), erstere den minder grellen des Königreichs Baiern ziemlich adäquat zu sein. Welche Capitalien, ganz abgesehen von den Menschenkräften, mit diesen Auö- wanderungsmassen dem Vaterland entzogen worden sind, dürfte wol noch

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 15, 1856, II. Semester. IV. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341584_102594/32>, abgerufen am 04.05.2024.