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Die Grenzboten. Jg. 16, 1857, I. Semester. I. Band.

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Aus dem griechischen Merthnm.
Grotes Mythologie und Napoleon.

Schon öfter ist in diesen Blättern die Geschichte Griechenlands von
G. Grote besprochen worden. Wenn bisher darauf aufmerksam gemacht wurde,
inwiefern das Werk des englischen Staatsmannes für die politische Geschichte
der griechischen Staaten epochemachend ist, so knüpfen wir dies Mal an feine
Behandlung der griechischen Religion und Sagenpoesie an. Wir fürchten
allerdings, mit dem Geständniß Anstoß zu geben, daß uns auch auf diesem
Gebiete seine Anschauungen klarer-, seine Auffassung schärfer, richtiger und
eindringender zu sein scheint, als die vieler deutscher Gelehrten. Aber in der
Wissenschaft dürfen die Regungen des Nationalgefühls, wenn auch noch so
natürlich, unser Urtheil nicht modificiren. Wir dürfen uns sagen, daß ohne
die umfassenden, gründlichen und eindringenden Studien der deutschen Alter-
thumsforschung das Werk des englischen Geschichtschreibers nicht hätte entstehen
können: in der That wird man selten finden, daß er sich auf andere als deutsche
Autoritäten stützt, und selbst wenn er ihre Behauptungen modificirt oder um¬
stößt, so geschieht es gewöhnlich mit Hilfe der von ihnen gemachten Vorar¬
beiten. Aber ebenso aufrichtig und neidlos als Grote die Verdienste der deut¬
schen Philologie anerkannt hat, sollten auch wir die Größe eines Werks er¬
kennen, das die politische Einsicht des Vorkämpfers der Reform mit der Kritik
und Gelehrsamkeit des Alterthumsforschers verbindet, das durch die Arbeit eines
vollen Menschenalters*) und unter einer Gunst der Verhältnisse, wie sie dem
deutschen Gelehrten niemals zu Theil wird, geschaffen worden ist, aber darum
freilich auch eine Vollkommenheit erreicht, die unsern bisherigen Leistungen aus
demselben Gebiet in der Regel versagt gewesen ist'.

Die kleinmeisterliche und verblendete Opposition, die anfangs von ge¬
wisser Seite her gegen das Buch "des Engländers" erhoben wurde, der so im-



") Schon im Jahr 1827 schrieb Niebuhr an Franz Lieber, er möge suchen, mit Herrn
Grote bekannt zu werden, der mit einer Geschichte Griechenlands beschäftigt sei, von der er
viel erwarte. Die -12 Bände des Werks sind von 18L6 bis -I8L6 erschienen. Leider über¬
steigt der Preis (wenn wir nicht irren ein Pfund für den Band) die Mittel der meisten
deutschen Gelehrten erheblich. Um so Wünschenswerther wäre eine tauchnitzsche Continental-
ausgabe, deren Verbreitung sicher bedeutend sein würde.
Grenzboten. I. -I8ki7. ZI
Aus dem griechischen Merthnm.
Grotes Mythologie und Napoleon.

Schon öfter ist in diesen Blättern die Geschichte Griechenlands von
G. Grote besprochen worden. Wenn bisher darauf aufmerksam gemacht wurde,
inwiefern das Werk des englischen Staatsmannes für die politische Geschichte
der griechischen Staaten epochemachend ist, so knüpfen wir dies Mal an feine
Behandlung der griechischen Religion und Sagenpoesie an. Wir fürchten
allerdings, mit dem Geständniß Anstoß zu geben, daß uns auch auf diesem
Gebiete seine Anschauungen klarer-, seine Auffassung schärfer, richtiger und
eindringender zu sein scheint, als die vieler deutscher Gelehrten. Aber in der
Wissenschaft dürfen die Regungen des Nationalgefühls, wenn auch noch so
natürlich, unser Urtheil nicht modificiren. Wir dürfen uns sagen, daß ohne
die umfassenden, gründlichen und eindringenden Studien der deutschen Alter-
thumsforschung das Werk des englischen Geschichtschreibers nicht hätte entstehen
können: in der That wird man selten finden, daß er sich auf andere als deutsche
Autoritäten stützt, und selbst wenn er ihre Behauptungen modificirt oder um¬
stößt, so geschieht es gewöhnlich mit Hilfe der von ihnen gemachten Vorar¬
beiten. Aber ebenso aufrichtig und neidlos als Grote die Verdienste der deut¬
schen Philologie anerkannt hat, sollten auch wir die Größe eines Werks er¬
kennen, das die politische Einsicht des Vorkämpfers der Reform mit der Kritik
und Gelehrsamkeit des Alterthumsforschers verbindet, das durch die Arbeit eines
vollen Menschenalters*) und unter einer Gunst der Verhältnisse, wie sie dem
deutschen Gelehrten niemals zu Theil wird, geschaffen worden ist, aber darum
freilich auch eine Vollkommenheit erreicht, die unsern bisherigen Leistungen aus
demselben Gebiet in der Regel versagt gewesen ist'.

Die kleinmeisterliche und verblendete Opposition, die anfangs von ge¬
wisser Seite her gegen das Buch „des Engländers" erhoben wurde, der so im-



") Schon im Jahr 1827 schrieb Niebuhr an Franz Lieber, er möge suchen, mit Herrn
Grote bekannt zu werden, der mit einer Geschichte Griechenlands beschäftigt sei, von der er
viel erwarte. Die -12 Bände des Werks sind von 18L6 bis -I8L6 erschienen. Leider über¬
steigt der Preis (wenn wir nicht irren ein Pfund für den Band) die Mittel der meisten
deutschen Gelehrten erheblich. Um so Wünschenswerther wäre eine tauchnitzsche Continental-
ausgabe, deren Verbreitung sicher bedeutend sein würde.
Grenzboten. I. -I8ki7. ZI
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[0169] Aus dem griechischen Merthnm. Grotes Mythologie und Napoleon. Schon öfter ist in diesen Blättern die Geschichte Griechenlands von G. Grote besprochen worden. Wenn bisher darauf aufmerksam gemacht wurde, inwiefern das Werk des englischen Staatsmannes für die politische Geschichte der griechischen Staaten epochemachend ist, so knüpfen wir dies Mal an feine Behandlung der griechischen Religion und Sagenpoesie an. Wir fürchten allerdings, mit dem Geständniß Anstoß zu geben, daß uns auch auf diesem Gebiete seine Anschauungen klarer-, seine Auffassung schärfer, richtiger und eindringender zu sein scheint, als die vieler deutscher Gelehrten. Aber in der Wissenschaft dürfen die Regungen des Nationalgefühls, wenn auch noch so natürlich, unser Urtheil nicht modificiren. Wir dürfen uns sagen, daß ohne die umfassenden, gründlichen und eindringenden Studien der deutschen Alter- thumsforschung das Werk des englischen Geschichtschreibers nicht hätte entstehen können: in der That wird man selten finden, daß er sich auf andere als deutsche Autoritäten stützt, und selbst wenn er ihre Behauptungen modificirt oder um¬ stößt, so geschieht es gewöhnlich mit Hilfe der von ihnen gemachten Vorar¬ beiten. Aber ebenso aufrichtig und neidlos als Grote die Verdienste der deut¬ schen Philologie anerkannt hat, sollten auch wir die Größe eines Werks er¬ kennen, das die politische Einsicht des Vorkämpfers der Reform mit der Kritik und Gelehrsamkeit des Alterthumsforschers verbindet, das durch die Arbeit eines vollen Menschenalters*) und unter einer Gunst der Verhältnisse, wie sie dem deutschen Gelehrten niemals zu Theil wird, geschaffen worden ist, aber darum freilich auch eine Vollkommenheit erreicht, die unsern bisherigen Leistungen aus demselben Gebiet in der Regel versagt gewesen ist'. Die kleinmeisterliche und verblendete Opposition, die anfangs von ge¬ wisser Seite her gegen das Buch „des Engländers" erhoben wurde, der so im- ") Schon im Jahr 1827 schrieb Niebuhr an Franz Lieber, er möge suchen, mit Herrn Grote bekannt zu werden, der mit einer Geschichte Griechenlands beschäftigt sei, von der er viel erwarte. Die -12 Bände des Werks sind von 18L6 bis -I8L6 erschienen. Leider über¬ steigt der Preis (wenn wir nicht irren ein Pfund für den Band) die Mittel der meisten deutschen Gelehrten erheblich. Um so Wünschenswerther wäre eine tauchnitzsche Continental- ausgabe, deren Verbreitung sicher bedeutend sein würde. Grenzboten. I. -I8ki7. ZI

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 16, 1857, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341586_103132/169>, abgerufen am 27.04.2024.