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Die Grenzboten. Jg. 16, 1857, I. Semester. I. Band.

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Französische Geschichtschreiber.
2. Mignet und Thiers.

Man versteht die schnell eintretenden Katastrophen der französischen Zu¬
stände innerhalb der letzten Jahrzehnte erst dann, wenn man die Stimmungen
und Gesinnungen durchforscht, die sie nicht grade herbeiführten, aber die ihnen
entgegenkamen. Denn zum Eintritt einer Thatsache gehören noch viele Um¬
stände, die sich insofern der Berechnung entziehen, als sie nicht aus dem all¬
gemeinen sittlichen Geist hergeleitet werden können. Bei einem so elastischen
Volk wie die Franzosen muß der Zunder grade in einem bestimmten Augen¬
blick aufgehäuft sein, daß der elektrische Strahl ihn trifft, und es wäre die
größte Vermessenheit, nachträglich die innere Nothwendigkeit aller jener Revo¬
lutionen beweisen zu wollen. Die Julirevolution war zu vermeiden, auch die
Februarrevolution war zu vermeiden; aber da sie einmal eintraten, wurde
ihre Richtung durch die früher vorbereitete Gesinnung festgestellt. Der Ther¬
mometer der öffentlichen Gesinnung ist derjenige Theil der Literatur, der sich
auf die WirklWeit bezieht. Man darf aber nicht die eigentlich periodische
Literatur zum Maßstab nehmen, für die es schwer sein würde eine mittlere
Proportionale zu finden, sondern einzelne Werke, die eine unmittelbare mäch¬
tige Wirkung hervorbrachten und die dadurch bewiesen, daß sie die Stimmung
der Zeit richtig getroffen halten. Die Julirevolution versteht man nur aus
Thiers und Mignet, die Februarrevolution nur aus Lamartine, Louis Blanc
und Michelet; und auch für den neuesten Staatsstreich würden sich die Quellen
auffinden lassen. Es sind vorzugsweise die Historiker, die, indem sie die Ver¬
gangenheit darstellten, die Ereignisse der Zukunft vorausgenommen haben.

Im Jahr 1821 , als die politische und kirchliche Reaction immer weiter
um sich griff, wanderten zwei junge Prooem<,!aler in Paris ein, um dort ihr
Glück zu machen und für die Sache des Liberalismus zu arbeiten: Mignet
und Thiers, der eine 26, der andere 2ü Jahre alt, beide zu Aix in der¬
selben Schule erzogen, aus der Universität zur Jurisprudenz vorgebildet und
dann in den Advocatenstand ausgenommen, beide von gleichen Ueberzeugungen
durchdrungen und auss innigste miteinander befreundet. Sie wohnten in
Paris auf demselben Zimmer, machten dieselben Bekanntschaften und wurden


Grenzboten. I. -ILL7. 26
Französische Geschichtschreiber.
2. Mignet und Thiers.

Man versteht die schnell eintretenden Katastrophen der französischen Zu¬
stände innerhalb der letzten Jahrzehnte erst dann, wenn man die Stimmungen
und Gesinnungen durchforscht, die sie nicht grade herbeiführten, aber die ihnen
entgegenkamen. Denn zum Eintritt einer Thatsache gehören noch viele Um¬
stände, die sich insofern der Berechnung entziehen, als sie nicht aus dem all¬
gemeinen sittlichen Geist hergeleitet werden können. Bei einem so elastischen
Volk wie die Franzosen muß der Zunder grade in einem bestimmten Augen¬
blick aufgehäuft sein, daß der elektrische Strahl ihn trifft, und es wäre die
größte Vermessenheit, nachträglich die innere Nothwendigkeit aller jener Revo¬
lutionen beweisen zu wollen. Die Julirevolution war zu vermeiden, auch die
Februarrevolution war zu vermeiden; aber da sie einmal eintraten, wurde
ihre Richtung durch die früher vorbereitete Gesinnung festgestellt. Der Ther¬
mometer der öffentlichen Gesinnung ist derjenige Theil der Literatur, der sich
auf die WirklWeit bezieht. Man darf aber nicht die eigentlich periodische
Literatur zum Maßstab nehmen, für die es schwer sein würde eine mittlere
Proportionale zu finden, sondern einzelne Werke, die eine unmittelbare mäch¬
tige Wirkung hervorbrachten und die dadurch bewiesen, daß sie die Stimmung
der Zeit richtig getroffen halten. Die Julirevolution versteht man nur aus
Thiers und Mignet, die Februarrevolution nur aus Lamartine, Louis Blanc
und Michelet; und auch für den neuesten Staatsstreich würden sich die Quellen
auffinden lassen. Es sind vorzugsweise die Historiker, die, indem sie die Ver¬
gangenheit darstellten, die Ereignisse der Zukunft vorausgenommen haben.

Im Jahr 1821 , als die politische und kirchliche Reaction immer weiter
um sich griff, wanderten zwei junge Prooem<,!aler in Paris ein, um dort ihr
Glück zu machen und für die Sache des Liberalismus zu arbeiten: Mignet
und Thiers, der eine 26, der andere 2ü Jahre alt, beide zu Aix in der¬
selben Schule erzogen, aus der Universität zur Jurisprudenz vorgebildet und
dann in den Advocatenstand ausgenommen, beide von gleichen Ueberzeugungen
durchdrungen und auss innigste miteinander befreundet. Sie wohnten in
Paris auf demselben Zimmer, machten dieselben Bekanntschaften und wurden


Grenzboten. I. -ILL7. 26
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[0209] Französische Geschichtschreiber. 2. Mignet und Thiers. Man versteht die schnell eintretenden Katastrophen der französischen Zu¬ stände innerhalb der letzten Jahrzehnte erst dann, wenn man die Stimmungen und Gesinnungen durchforscht, die sie nicht grade herbeiführten, aber die ihnen entgegenkamen. Denn zum Eintritt einer Thatsache gehören noch viele Um¬ stände, die sich insofern der Berechnung entziehen, als sie nicht aus dem all¬ gemeinen sittlichen Geist hergeleitet werden können. Bei einem so elastischen Volk wie die Franzosen muß der Zunder grade in einem bestimmten Augen¬ blick aufgehäuft sein, daß der elektrische Strahl ihn trifft, und es wäre die größte Vermessenheit, nachträglich die innere Nothwendigkeit aller jener Revo¬ lutionen beweisen zu wollen. Die Julirevolution war zu vermeiden, auch die Februarrevolution war zu vermeiden; aber da sie einmal eintraten, wurde ihre Richtung durch die früher vorbereitete Gesinnung festgestellt. Der Ther¬ mometer der öffentlichen Gesinnung ist derjenige Theil der Literatur, der sich auf die WirklWeit bezieht. Man darf aber nicht die eigentlich periodische Literatur zum Maßstab nehmen, für die es schwer sein würde eine mittlere Proportionale zu finden, sondern einzelne Werke, die eine unmittelbare mäch¬ tige Wirkung hervorbrachten und die dadurch bewiesen, daß sie die Stimmung der Zeit richtig getroffen halten. Die Julirevolution versteht man nur aus Thiers und Mignet, die Februarrevolution nur aus Lamartine, Louis Blanc und Michelet; und auch für den neuesten Staatsstreich würden sich die Quellen auffinden lassen. Es sind vorzugsweise die Historiker, die, indem sie die Ver¬ gangenheit darstellten, die Ereignisse der Zukunft vorausgenommen haben. Im Jahr 1821 , als die politische und kirchliche Reaction immer weiter um sich griff, wanderten zwei junge Prooem<,!aler in Paris ein, um dort ihr Glück zu machen und für die Sache des Liberalismus zu arbeiten: Mignet und Thiers, der eine 26, der andere 2ü Jahre alt, beide zu Aix in der¬ selben Schule erzogen, aus der Universität zur Jurisprudenz vorgebildet und dann in den Advocatenstand ausgenommen, beide von gleichen Ueberzeugungen durchdrungen und auss innigste miteinander befreundet. Sie wohnten in Paris auf demselben Zimmer, machten dieselben Bekanntschaften und wurden Grenzboten. I. -ILL7. 26

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 16, 1857, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341586_103132/209>, abgerufen am 27.04.2024.