Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 16, 1857, I. Semester. I. Band.

Bild:
<< vorherige Seite

klarer Einsicht gepaart ist. Es gehört zum Unangenehmsten, was einem aus¬
gezeichneten Manne widerfahren kann, von einem Tölpel gelobt zu werden,
und niemand hat unter der begreiflichen Neigung unbedeutender Menschen,
sich an eine bestimmte Größe anzuklammern, mehr gelitten, als Goethe. Indem
man ihn als Ideal aller Weisheit auffassen wollte, machte man ihn je nach
der Geschmacksrichtung und dem Talent, von dem man ausging, zu dem,
was man selber war. Herr Lewes steht seinem Gegenstand ganz frei gegen¬
über, und darum wird er ihm gerecht. Er ist im Stande, die großen Seiten
hervorzuheben, weil er sich nicht scheut, aus die kleinen hinzudeuten; und das
Große ist so unendlich überwiegend, daß der Biograph nichts weiter sein darf
als Porträtmaler; der Dichter hat den Apologeten nicht nöthig.

Auch darin erkennt man den Engländer, daß er von den Localitäten,
die durch Goethes Aufenthalt geweiht sind, sich ein klares, anschauliches Bild
verschafft hat, und daß er ein großes Geschick darin besitzt, diese Localfarbe
in die Schilderung zu verweben. Darin übertrifft er namentlich Schefer
bei weitem.

Unsere Hauptausstellung bezieht sich auf den Stil. LeweS geht von der
Schule Carlyles aus, und dieser wahrhaft geistvolle, ja zuweilen tiefsinnige
Mann kann sich doch nicht erwehren, mitunter den Malvolio zu spielen d. h.
einen guten oder schlechten Witz an Stelle der einfachen Darstellung zu setzen.
Man lese z. B. S. 7: "Dessen Sohn, Friedrich, vermuthlich mehr zur Be¬
schaulichkeit geneigt, wählte einen beschaulicheren Beruf als Pferde zu beschlagen:
er wurde Schneider. Nach vollendeten Lehrjahren -- eS waren nicht ganz
die Wilhelm Meisters -- begann er seine Wanderjahre und kam nach Frank¬
furt am Main. Hier fand er bald Beschäftigung und da er, wie es heißt,
"den Schönen hold" war, so fand er auch bald eine Frau." Diese und ähn¬
liche Spielereien, so wie auch die Citate aus Goethes Dramen, die uns
Deutschen doch geläufig sind, hätte der Uebersetzer beschneiden sollen, dem wir
im Uebrigen nachsagen müssen, daß er seine Aufgabe richtig verstanden und
den schönen Kern in einer schönen Schale gegeben hat. --


Grundriß der Geschichte der deutschen Nationalliteratur, entworfen
von August Koberstein. Vierte, durchgängig verbesserte und zum größten
Theil völlig umgearbeitete Ausgabe. Leipzig <8i7. F. Chr. W. Vogel. --

Wir hatten bei unserer frühern Anzeige dieses Werks, welches trotz der
anderweitigen höchst werthvollen Arbeiten in demselben Fach für jeden, der
sich mit den eigentlichen Thatsachen der Literaturgeschichte bekannt machen will,
noch immer das vorzüglichste Lehrbuch ist, den Wunsch ausgesprochen, der
Verfasser möge eS durch ein ausführliches und detaillirtes Namen-und Sach¬
register dem Publicum zugänglich machen. Der Wunsch war um so gerecht-


klarer Einsicht gepaart ist. Es gehört zum Unangenehmsten, was einem aus¬
gezeichneten Manne widerfahren kann, von einem Tölpel gelobt zu werden,
und niemand hat unter der begreiflichen Neigung unbedeutender Menschen,
sich an eine bestimmte Größe anzuklammern, mehr gelitten, als Goethe. Indem
man ihn als Ideal aller Weisheit auffassen wollte, machte man ihn je nach
der Geschmacksrichtung und dem Talent, von dem man ausging, zu dem,
was man selber war. Herr Lewes steht seinem Gegenstand ganz frei gegen¬
über, und darum wird er ihm gerecht. Er ist im Stande, die großen Seiten
hervorzuheben, weil er sich nicht scheut, aus die kleinen hinzudeuten; und das
Große ist so unendlich überwiegend, daß der Biograph nichts weiter sein darf
als Porträtmaler; der Dichter hat den Apologeten nicht nöthig.

Auch darin erkennt man den Engländer, daß er von den Localitäten,
die durch Goethes Aufenthalt geweiht sind, sich ein klares, anschauliches Bild
verschafft hat, und daß er ein großes Geschick darin besitzt, diese Localfarbe
in die Schilderung zu verweben. Darin übertrifft er namentlich Schefer
bei weitem.

Unsere Hauptausstellung bezieht sich auf den Stil. LeweS geht von der
Schule Carlyles aus, und dieser wahrhaft geistvolle, ja zuweilen tiefsinnige
Mann kann sich doch nicht erwehren, mitunter den Malvolio zu spielen d. h.
einen guten oder schlechten Witz an Stelle der einfachen Darstellung zu setzen.
Man lese z. B. S. 7: „Dessen Sohn, Friedrich, vermuthlich mehr zur Be¬
schaulichkeit geneigt, wählte einen beschaulicheren Beruf als Pferde zu beschlagen:
er wurde Schneider. Nach vollendeten Lehrjahren — eS waren nicht ganz
die Wilhelm Meisters — begann er seine Wanderjahre und kam nach Frank¬
furt am Main. Hier fand er bald Beschäftigung und da er, wie es heißt,
„den Schönen hold" war, so fand er auch bald eine Frau." Diese und ähn¬
liche Spielereien, so wie auch die Citate aus Goethes Dramen, die uns
Deutschen doch geläufig sind, hätte der Uebersetzer beschneiden sollen, dem wir
im Uebrigen nachsagen müssen, daß er seine Aufgabe richtig verstanden und
den schönen Kern in einer schönen Schale gegeben hat. —


Grundriß der Geschichte der deutschen Nationalliteratur, entworfen
von August Koberstein. Vierte, durchgängig verbesserte und zum größten
Theil völlig umgearbeitete Ausgabe. Leipzig <8i7. F. Chr. W. Vogel. —

Wir hatten bei unserer frühern Anzeige dieses Werks, welches trotz der
anderweitigen höchst werthvollen Arbeiten in demselben Fach für jeden, der
sich mit den eigentlichen Thatsachen der Literaturgeschichte bekannt machen will,
noch immer das vorzüglichste Lehrbuch ist, den Wunsch ausgesprochen, der
Verfasser möge eS durch ein ausführliches und detaillirtes Namen-und Sach¬
register dem Publicum zugänglich machen. Der Wunsch war um so gerecht-


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <div n="2">
            <pb facs="#f0275" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/103408"/>
            <p xml:id="ID_994" prev="#ID_993"> klarer Einsicht gepaart ist. Es gehört zum Unangenehmsten, was einem aus¬<lb/>
gezeichneten Manne widerfahren kann, von einem Tölpel gelobt zu werden,<lb/>
und niemand hat unter der begreiflichen Neigung unbedeutender Menschen,<lb/>
sich an eine bestimmte Größe anzuklammern, mehr gelitten, als Goethe. Indem<lb/>
man ihn als Ideal aller Weisheit auffassen wollte, machte man ihn je nach<lb/>
der Geschmacksrichtung und dem Talent, von dem man ausging, zu dem,<lb/>
was man selber war. Herr Lewes steht seinem Gegenstand ganz frei gegen¬<lb/>
über, und darum wird er ihm gerecht. Er ist im Stande, die großen Seiten<lb/>
hervorzuheben, weil er sich nicht scheut, aus die kleinen hinzudeuten; und das<lb/>
Große ist so unendlich überwiegend, daß der Biograph nichts weiter sein darf<lb/>
als Porträtmaler; der Dichter hat den Apologeten nicht nöthig.</p><lb/>
            <p xml:id="ID_995"> Auch darin erkennt man den Engländer, daß er von den Localitäten,<lb/>
die durch Goethes Aufenthalt geweiht sind, sich ein klares, anschauliches Bild<lb/>
verschafft hat, und daß er ein großes Geschick darin besitzt, diese Localfarbe<lb/>
in die Schilderung zu verweben. Darin übertrifft er namentlich Schefer<lb/>
bei weitem.</p><lb/>
            <p xml:id="ID_996"> Unsere Hauptausstellung bezieht sich auf den Stil. LeweS geht von der<lb/>
Schule Carlyles aus, und dieser wahrhaft geistvolle, ja zuweilen tiefsinnige<lb/>
Mann kann sich doch nicht erwehren, mitunter den Malvolio zu spielen d. h.<lb/>
einen guten oder schlechten Witz an Stelle der einfachen Darstellung zu setzen.<lb/>
Man lese z. B. S. 7: &#x201E;Dessen Sohn, Friedrich, vermuthlich mehr zur Be¬<lb/>
schaulichkeit geneigt, wählte einen beschaulicheren Beruf als Pferde zu beschlagen:<lb/>
er wurde Schneider. Nach vollendeten Lehrjahren &#x2014; eS waren nicht ganz<lb/>
die Wilhelm Meisters &#x2014; begann er seine Wanderjahre und kam nach Frank¬<lb/>
furt am Main. Hier fand er bald Beschäftigung und da er, wie es heißt,<lb/>
&#x201E;den Schönen hold" war, so fand er auch bald eine Frau." Diese und ähn¬<lb/>
liche Spielereien, so wie auch die Citate aus Goethes Dramen, die uns<lb/>
Deutschen doch geläufig sind, hätte der Uebersetzer beschneiden sollen, dem wir<lb/>
im Uebrigen nachsagen müssen, daß er seine Aufgabe richtig verstanden und<lb/>
den schönen Kern in einer schönen Schale gegeben hat. &#x2014;</p><lb/>
          </div>
          <div n="2">
            <head> Grundriß der Geschichte der deutschen Nationalliteratur, entworfen<lb/>
von August Koberstein. Vierte, durchgängig verbesserte und zum größten<lb/>
Theil völlig umgearbeitete Ausgabe. Leipzig &lt;8i7. F. Chr. W. Vogel. &#x2014;</head><lb/>
            <p xml:id="ID_997" next="#ID_998"> Wir hatten bei unserer frühern Anzeige dieses Werks, welches trotz der<lb/>
anderweitigen höchst werthvollen Arbeiten in demselben Fach für jeden, der<lb/>
sich mit den eigentlichen Thatsachen der Literaturgeschichte bekannt machen will,<lb/>
noch immer das vorzüglichste Lehrbuch ist, den Wunsch ausgesprochen, der<lb/>
Verfasser möge eS durch ein ausführliches und detaillirtes Namen-und Sach¬<lb/>
register dem Publicum zugänglich machen. Der Wunsch war um so gerecht-</p><lb/>
            <fw type="sig" place="bottom"/><lb/>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0275] klarer Einsicht gepaart ist. Es gehört zum Unangenehmsten, was einem aus¬ gezeichneten Manne widerfahren kann, von einem Tölpel gelobt zu werden, und niemand hat unter der begreiflichen Neigung unbedeutender Menschen, sich an eine bestimmte Größe anzuklammern, mehr gelitten, als Goethe. Indem man ihn als Ideal aller Weisheit auffassen wollte, machte man ihn je nach der Geschmacksrichtung und dem Talent, von dem man ausging, zu dem, was man selber war. Herr Lewes steht seinem Gegenstand ganz frei gegen¬ über, und darum wird er ihm gerecht. Er ist im Stande, die großen Seiten hervorzuheben, weil er sich nicht scheut, aus die kleinen hinzudeuten; und das Große ist so unendlich überwiegend, daß der Biograph nichts weiter sein darf als Porträtmaler; der Dichter hat den Apologeten nicht nöthig. Auch darin erkennt man den Engländer, daß er von den Localitäten, die durch Goethes Aufenthalt geweiht sind, sich ein klares, anschauliches Bild verschafft hat, und daß er ein großes Geschick darin besitzt, diese Localfarbe in die Schilderung zu verweben. Darin übertrifft er namentlich Schefer bei weitem. Unsere Hauptausstellung bezieht sich auf den Stil. LeweS geht von der Schule Carlyles aus, und dieser wahrhaft geistvolle, ja zuweilen tiefsinnige Mann kann sich doch nicht erwehren, mitunter den Malvolio zu spielen d. h. einen guten oder schlechten Witz an Stelle der einfachen Darstellung zu setzen. Man lese z. B. S. 7: „Dessen Sohn, Friedrich, vermuthlich mehr zur Be¬ schaulichkeit geneigt, wählte einen beschaulicheren Beruf als Pferde zu beschlagen: er wurde Schneider. Nach vollendeten Lehrjahren — eS waren nicht ganz die Wilhelm Meisters — begann er seine Wanderjahre und kam nach Frank¬ furt am Main. Hier fand er bald Beschäftigung und da er, wie es heißt, „den Schönen hold" war, so fand er auch bald eine Frau." Diese und ähn¬ liche Spielereien, so wie auch die Citate aus Goethes Dramen, die uns Deutschen doch geläufig sind, hätte der Uebersetzer beschneiden sollen, dem wir im Uebrigen nachsagen müssen, daß er seine Aufgabe richtig verstanden und den schönen Kern in einer schönen Schale gegeben hat. — Grundriß der Geschichte der deutschen Nationalliteratur, entworfen von August Koberstein. Vierte, durchgängig verbesserte und zum größten Theil völlig umgearbeitete Ausgabe. Leipzig <8i7. F. Chr. W. Vogel. — Wir hatten bei unserer frühern Anzeige dieses Werks, welches trotz der anderweitigen höchst werthvollen Arbeiten in demselben Fach für jeden, der sich mit den eigentlichen Thatsachen der Literaturgeschichte bekannt machen will, noch immer das vorzüglichste Lehrbuch ist, den Wunsch ausgesprochen, der Verfasser möge eS durch ein ausführliches und detaillirtes Namen-und Sach¬ register dem Publicum zugänglich machen. Der Wunsch war um so gerecht-

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341586_103132
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341586_103132/275
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 16, 1857, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341586_103132/275>, abgerufen am 27.04.2024.