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Die Grenzboten. Jg. 16, 1857, I. Semester. I. Band.

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fällig klingt, weil wir die Silben nicht blos zählen, sondern messen, so reicht
für den ersten unser Athem nicht aus. Die Griechen haben längere Worte,
sie haben eine freiere, elastischer gegliederte Construction. Bei uns verführen
alle jene VerSmaße augenblicklich zur Rhetorik. Durch nichts wird aber die
dramatische Action so gehemmt, als durch eine ununterbrochen feierliche Stim¬
mung. Nachahmen kann unsere geschmeidige Sprache alles, haben wir doch
auch die zerhackten calderonischen Rhythmen bei uns eingeführt, aber freilich
klingen sie bei uns ganz anders als bei den Spaniern, wo der Reim sich
von selbst darbietet, während wir ihn mühsam suchen müssen.

Wenn die realistischen Neigungen der neuern Zeit unsere Dichter zu
manchen Abwegen verleitet haben, wenn die Schillersche Schule seichten Köpfen
den Zugang zur Bühne erleichtert hat, so können wir doch beides, wenn die
dramatische Kunst sich naturgemäß entwickeln soll, nicht umgehen, und nament¬
lich sollten Dichter, deren Bildung das productive Talent überwiegt, streng an
der Tradition festhalten, damit die Brücke, die uns zur Vergangenheit führt,
nicht abgebrochen wird. Wenn ein wirklicher Genius kommt, so wird er viel¬
leicht auch eine neue Form hervorbringen, der die Kritik sich fügen muß wie
die Masse; dem bloßen Talent gegenüber muß man konservativ sein.




Aus dein griechischen Alterthum.
Die Heldensagen des Alterthums und des Mittelalters.

Ein großer Vorzug von Grotes Geschichte Griechenlands besteht darin,
daß dem Verfasser überall Analogien und Gegenbilder aus andern Perioden
der Geschichte zu Gebote stehn, die häufig ein überraschendes Licht auf den
grade in Betracht gezogenen Gegenstand werfen. Nichts ist so geeignet, das
Urtheil übet zweifelhafte Fälle festzustellen, als die Erinnerung an solche ent¬
sprechende Fälle, über die das Urtheil sich firirt hat, Grote besitzt alle Eigen¬
schaften im höchsten Grade, die zu solchen Vergleichungen erforderlich sind-
Seine Kenntniß der Geschichte aller Zeiten und Länder, der Literaturen aller
Völker, der Culturzustände durch die ganze Stufenleiter menschlicher Ent¬
wicklung, von der Rohheit kalmückischer Hürden und indianischer Kraals bis
zu der Eleganz moderner europäischer Höfe -- ist von einer staunenswürdigett
Universalität; und seine Methode, Beispiele, über deren Bedeutung alle Welt
einig ist, zur Beleuchtung solcher anzuwenden, über welche die Urtheile nach
den entgegengesetzten Ertremen auseinandergehe", ist stets äußerst besonnen und
vorsichtig, daher die Wirkung auch gewöhnlich um so überraschender. Daß


fällig klingt, weil wir die Silben nicht blos zählen, sondern messen, so reicht
für den ersten unser Athem nicht aus. Die Griechen haben längere Worte,
sie haben eine freiere, elastischer gegliederte Construction. Bei uns verführen
alle jene VerSmaße augenblicklich zur Rhetorik. Durch nichts wird aber die
dramatische Action so gehemmt, als durch eine ununterbrochen feierliche Stim¬
mung. Nachahmen kann unsere geschmeidige Sprache alles, haben wir doch
auch die zerhackten calderonischen Rhythmen bei uns eingeführt, aber freilich
klingen sie bei uns ganz anders als bei den Spaniern, wo der Reim sich
von selbst darbietet, während wir ihn mühsam suchen müssen.

Wenn die realistischen Neigungen der neuern Zeit unsere Dichter zu
manchen Abwegen verleitet haben, wenn die Schillersche Schule seichten Köpfen
den Zugang zur Bühne erleichtert hat, so können wir doch beides, wenn die
dramatische Kunst sich naturgemäß entwickeln soll, nicht umgehen, und nament¬
lich sollten Dichter, deren Bildung das productive Talent überwiegt, streng an
der Tradition festhalten, damit die Brücke, die uns zur Vergangenheit führt,
nicht abgebrochen wird. Wenn ein wirklicher Genius kommt, so wird er viel¬
leicht auch eine neue Form hervorbringen, der die Kritik sich fügen muß wie
die Masse; dem bloßen Talent gegenüber muß man konservativ sein.




Aus dein griechischen Alterthum.
Die Heldensagen des Alterthums und des Mittelalters.

Ein großer Vorzug von Grotes Geschichte Griechenlands besteht darin,
daß dem Verfasser überall Analogien und Gegenbilder aus andern Perioden
der Geschichte zu Gebote stehn, die häufig ein überraschendes Licht auf den
grade in Betracht gezogenen Gegenstand werfen. Nichts ist so geeignet, das
Urtheil übet zweifelhafte Fälle festzustellen, als die Erinnerung an solche ent¬
sprechende Fälle, über die das Urtheil sich firirt hat, Grote besitzt alle Eigen¬
schaften im höchsten Grade, die zu solchen Vergleichungen erforderlich sind-
Seine Kenntniß der Geschichte aller Zeiten und Länder, der Literaturen aller
Völker, der Culturzustände durch die ganze Stufenleiter menschlicher Ent¬
wicklung, von der Rohheit kalmückischer Hürden und indianischer Kraals bis
zu der Eleganz moderner europäischer Höfe — ist von einer staunenswürdigett
Universalität; und seine Methode, Beispiele, über deren Bedeutung alle Welt
einig ist, zur Beleuchtung solcher anzuwenden, über welche die Urtheile nach
den entgegengesetzten Ertremen auseinandergehe», ist stets äußerst besonnen und
vorsichtig, daher die Wirkung auch gewöhnlich um so überraschender. Daß


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 16, 1857, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341586_103132/296>, abgerufen am 27.04.2024.