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Die Grenzboten. Jg. 16, 1857, I. Semester. I. Band.

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Bilder aus der deutschen Vergangenheit.
Gaukler und Abenteurer im Mittelalter.

Mancher Leser erinnert sich wol aus seiner Kinderzeit an die anspruchs¬
losen Banden umherziehender Künstler, welche auf einem freien Platze seines
Heimathdorfes oder der kleinen Stadt durch Seiltänzer oder Bärenführer den
Kreis des schauenden Volkes in Erstaunen versetzten. Nur noch selten be¬
zaubert Bajazzo mit seiner spitzen Filzmütze die Dorfjugend, der hagere
Hals deS Kameels streckt sich nicht mehr nach den Blütenbäumen unserer
Dorfgarten aus und das Brummen des Bars, auf dem der scherzhafte Affe
verwegen umherhüpft, ruft schwerlich noch ein homerisches Gelächter in dem
gedrängten Kreise neugieriger Zuschauer hervor. Das Volk unserer fahrenden
Künstler ist von dem Strom des modernen Lebens verschlungen worden, was sich
erhielt, hat lernen müssen, höhere Ansprüche zu befriedigen, oder fristet in
Meßbuden oder bei Schützen- und Kirchweihfesten noch ein verkümmertes
Dasein. Vor einigen Jahren hat diesem wandernden Volk Holtei in seinen
"Vagabunden" ein heiteres Gedächtniß gestiftet, aber auch zu einer ernsten
Erinnerung gibt dasselbe Gelegenheit. Denn unsere Puppenspieler, Seiltänzer,
Bärenführer, Bänkelsänger sind die letzten Nachkommen einer uralten und
zahlreichen Menschenclasse, der fahrenden Leute, die ihren Ursprung bis auf die
Römerzeit zurückdatiren können, die durch das Mittelalter mit dem furchtbaren
Makel der Unehrlichkeit und Rechtlosigkeit behaftet, doch ein einflußreiches, oft ge¬
suchtes und hochbegünstigtes Dasein führten, auf unsere Poesie und Musik
einen wesentlichen Einfluß ausübten, in den Anfängen unseres Dramas eine
Rolle spielten und unseren Maskenaufzügen mehr als eine Maske und Ge¬
wohnheit gaben, ja selbst dem Teufel zu seinem Costüm verhalfen und zu
einigen Gewohnheiten, welche dem schwarzen Herrn noch jetzt anhängen und
welche Goethe in den Stand setzten, auch diese Gestalt durch seine bezaubernde
Poesie zu adeln.

Selten denkt man sich den Zusammenhang des deutschen Lebens mit dem
römischen Alterthum so innig und so ununterbrochen als er wirklich ist. Nicht
nur die Traditionen des römischen Kaiserreiches, das Christenthum, römisches
Recht, lateinische Sprache wurden Theile deutscher Bildung, noch massenhafter
haben sich die zahllosen kleinen Eigenthümlichkeiren der römischen Welt in
das Mittelalter hineingerettet. Der deutsche Ackerbau erhielt von den
Römern den größten Theil seiner Gerätschaften, auch den Weizen, die
Gerste und die Mehrzahl der übrigen Artikel unserer Productenbörse. Die
ältesten unserer eßbaren Obstsorten sind römischen Ursprungs, ebenso unser


Bilder aus der deutschen Vergangenheit.
Gaukler und Abenteurer im Mittelalter.

Mancher Leser erinnert sich wol aus seiner Kinderzeit an die anspruchs¬
losen Banden umherziehender Künstler, welche auf einem freien Platze seines
Heimathdorfes oder der kleinen Stadt durch Seiltänzer oder Bärenführer den
Kreis des schauenden Volkes in Erstaunen versetzten. Nur noch selten be¬
zaubert Bajazzo mit seiner spitzen Filzmütze die Dorfjugend, der hagere
Hals deS Kameels streckt sich nicht mehr nach den Blütenbäumen unserer
Dorfgarten aus und das Brummen des Bars, auf dem der scherzhafte Affe
verwegen umherhüpft, ruft schwerlich noch ein homerisches Gelächter in dem
gedrängten Kreise neugieriger Zuschauer hervor. Das Volk unserer fahrenden
Künstler ist von dem Strom des modernen Lebens verschlungen worden, was sich
erhielt, hat lernen müssen, höhere Ansprüche zu befriedigen, oder fristet in
Meßbuden oder bei Schützen- und Kirchweihfesten noch ein verkümmertes
Dasein. Vor einigen Jahren hat diesem wandernden Volk Holtei in seinen
„Vagabunden" ein heiteres Gedächtniß gestiftet, aber auch zu einer ernsten
Erinnerung gibt dasselbe Gelegenheit. Denn unsere Puppenspieler, Seiltänzer,
Bärenführer, Bänkelsänger sind die letzten Nachkommen einer uralten und
zahlreichen Menschenclasse, der fahrenden Leute, die ihren Ursprung bis auf die
Römerzeit zurückdatiren können, die durch das Mittelalter mit dem furchtbaren
Makel der Unehrlichkeit und Rechtlosigkeit behaftet, doch ein einflußreiches, oft ge¬
suchtes und hochbegünstigtes Dasein führten, auf unsere Poesie und Musik
einen wesentlichen Einfluß ausübten, in den Anfängen unseres Dramas eine
Rolle spielten und unseren Maskenaufzügen mehr als eine Maske und Ge¬
wohnheit gaben, ja selbst dem Teufel zu seinem Costüm verhalfen und zu
einigen Gewohnheiten, welche dem schwarzen Herrn noch jetzt anhängen und
welche Goethe in den Stand setzten, auch diese Gestalt durch seine bezaubernde
Poesie zu adeln.

Selten denkt man sich den Zusammenhang des deutschen Lebens mit dem
römischen Alterthum so innig und so ununterbrochen als er wirklich ist. Nicht
nur die Traditionen des römischen Kaiserreiches, das Christenthum, römisches
Recht, lateinische Sprache wurden Theile deutscher Bildung, noch massenhafter
haben sich die zahllosen kleinen Eigenthümlichkeiren der römischen Welt in
das Mittelalter hineingerettet. Der deutsche Ackerbau erhielt von den
Römern den größten Theil seiner Gerätschaften, auch den Weizen, die
Gerste und die Mehrzahl der übrigen Artikel unserer Productenbörse. Die
ältesten unserer eßbaren Obstsorten sind römischen Ursprungs, ebenso unser


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[0514] Bilder aus der deutschen Vergangenheit. Gaukler und Abenteurer im Mittelalter. Mancher Leser erinnert sich wol aus seiner Kinderzeit an die anspruchs¬ losen Banden umherziehender Künstler, welche auf einem freien Platze seines Heimathdorfes oder der kleinen Stadt durch Seiltänzer oder Bärenführer den Kreis des schauenden Volkes in Erstaunen versetzten. Nur noch selten be¬ zaubert Bajazzo mit seiner spitzen Filzmütze die Dorfjugend, der hagere Hals deS Kameels streckt sich nicht mehr nach den Blütenbäumen unserer Dorfgarten aus und das Brummen des Bars, auf dem der scherzhafte Affe verwegen umherhüpft, ruft schwerlich noch ein homerisches Gelächter in dem gedrängten Kreise neugieriger Zuschauer hervor. Das Volk unserer fahrenden Künstler ist von dem Strom des modernen Lebens verschlungen worden, was sich erhielt, hat lernen müssen, höhere Ansprüche zu befriedigen, oder fristet in Meßbuden oder bei Schützen- und Kirchweihfesten noch ein verkümmertes Dasein. Vor einigen Jahren hat diesem wandernden Volk Holtei in seinen „Vagabunden" ein heiteres Gedächtniß gestiftet, aber auch zu einer ernsten Erinnerung gibt dasselbe Gelegenheit. Denn unsere Puppenspieler, Seiltänzer, Bärenführer, Bänkelsänger sind die letzten Nachkommen einer uralten und zahlreichen Menschenclasse, der fahrenden Leute, die ihren Ursprung bis auf die Römerzeit zurückdatiren können, die durch das Mittelalter mit dem furchtbaren Makel der Unehrlichkeit und Rechtlosigkeit behaftet, doch ein einflußreiches, oft ge¬ suchtes und hochbegünstigtes Dasein führten, auf unsere Poesie und Musik einen wesentlichen Einfluß ausübten, in den Anfängen unseres Dramas eine Rolle spielten und unseren Maskenaufzügen mehr als eine Maske und Ge¬ wohnheit gaben, ja selbst dem Teufel zu seinem Costüm verhalfen und zu einigen Gewohnheiten, welche dem schwarzen Herrn noch jetzt anhängen und welche Goethe in den Stand setzten, auch diese Gestalt durch seine bezaubernde Poesie zu adeln. Selten denkt man sich den Zusammenhang des deutschen Lebens mit dem römischen Alterthum so innig und so ununterbrochen als er wirklich ist. Nicht nur die Traditionen des römischen Kaiserreiches, das Christenthum, römisches Recht, lateinische Sprache wurden Theile deutscher Bildung, noch massenhafter haben sich die zahllosen kleinen Eigenthümlichkeiren der römischen Welt in das Mittelalter hineingerettet. Der deutsche Ackerbau erhielt von den Römern den größten Theil seiner Gerätschaften, auch den Weizen, die Gerste und die Mehrzahl der übrigen Artikel unserer Productenbörse. Die ältesten unserer eßbaren Obstsorten sind römischen Ursprungs, ebenso unser

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 16, 1857, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341586_103132/514>, abgerufen am 27.04.2024.