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Die Grenzboten. Jg. 16, 1857, I. Semester. II. Band.

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Dichtung und Wahrheit aus dem griechischen Alterthum.

Populäre Aufsätze aus dem Alterthum von K. Lehrs. Leipzig, Teubner. 1856.

Daß der Verfasser einer unsrer ersten Meister im Fach der Alterthums¬
wissenschaft ist, das ist wol nicht blos in dem großen Kreise der Fachgenossen
bekannt. Seine bisherigen nur für diesen Kreis zugänglichen Werke vereinigen
Eigenschaften, die einzeln nicht allzuhäufig, vereint aber äußerst selten ange¬
troffen werden: moderne Gelehrsamkeit, glänzender Scharfsinn, vollendeter Ge¬
schmack, eiserne Energie in der Untersuchung; Eigenschaften, um derentwillen
der verewigte Gottfried Hermann Lehrs Arbeiten "wahre Herkulesarbeiten"
nannte; Eigenschaften, um derentwillen die leipziger philosophische Facultät
in jenen bessern Tagen, als sie noch Haupt und Jahr zu ihren Mitgliedern
zählte, Lehrs zu Hermanns Nachfolger erkor. Das gegenwärtige Buch ist so
geschrieben, daß jeder Gebildete es lesen kann, und niemand wird es aus der
Hand legen, ohne dem Verfasser für die reichste Belehrung und Anregung dank¬
bar zu sein. Er zeigt sich hier von einer Seite, die in seinen rein philologi¬
schen Arbeiten nicht hervortreten konnte. Ein eindringendes und seines Ver¬
ständniß des hellenischen Geistes, ein ebenso tiefes als zartes Gefühl für Poesie
tritt dein Leser hier überall entgegen und hält ihn unwiderstehlich fest.

Nur bei einigen dieser Aufsätze, besonders bei denen über die Darstellung
der Helena in der griechischen Poesie, und über die griechische Vorstellung von dem
Neide der Götter, hat der Verfasser dem Leser vergönnt, die Untersuchung zu ver¬
folgen, aus der er seine Anschauungen gewonnen hat; bei den übrigen hat er
verschmäht die Fülle der Beweise mitzutheilen, auf denen die Resultate beruhn.
Damit ist zwar für das Interesse des größern Publicums genug geschehn; aber
im Interesse der Philologen ist es zu bedauern, daß der Verfasser ihnen
nicht gestattet hat, ihn auf den langen, verschlungenen und für jeden andern
leicht zu verfehlenden Wegen zu begleiten, auf denen er zu seinen Zielen ge¬
langt ist; und er neckt sie gewissermaßen, wenn er öfter ungefähr andeutet, wo
er seine Schätze gehoben hat, ohne die Stelle genau zu bezeichnen. Das
freilich würde der Sachkenner leicht sehn, auch wenn der Name des Verfassers
nicht auf dem Titel stände, daß die hier mitgetheilten Aufklärungen nicht ohne
die umfassendste und eindringendste Durchforschung des ganzen Alterthums ge¬
wonnen werden konnten: während Halbwisser, besonders wenn sie hier und
da auf etwas Bekanntes stoßen, vieles so natürlich und einfach finden werden,
daß sie sich möglicherweise einbilden könnten, sie hätten es ebensogut gewußt.

Der Verfasser hat seine Betrachtungen über die Sagenbildung in der
griechischen Literatur zunächst an Gestalten geknüpft, die durch bekannte deutsche


Dichtung und Wahrheit aus dem griechischen Alterthum.

Populäre Aufsätze aus dem Alterthum von K. Lehrs. Leipzig, Teubner. 1856.

Daß der Verfasser einer unsrer ersten Meister im Fach der Alterthums¬
wissenschaft ist, das ist wol nicht blos in dem großen Kreise der Fachgenossen
bekannt. Seine bisherigen nur für diesen Kreis zugänglichen Werke vereinigen
Eigenschaften, die einzeln nicht allzuhäufig, vereint aber äußerst selten ange¬
troffen werden: moderne Gelehrsamkeit, glänzender Scharfsinn, vollendeter Ge¬
schmack, eiserne Energie in der Untersuchung; Eigenschaften, um derentwillen
der verewigte Gottfried Hermann Lehrs Arbeiten „wahre Herkulesarbeiten"
nannte; Eigenschaften, um derentwillen die leipziger philosophische Facultät
in jenen bessern Tagen, als sie noch Haupt und Jahr zu ihren Mitgliedern
zählte, Lehrs zu Hermanns Nachfolger erkor. Das gegenwärtige Buch ist so
geschrieben, daß jeder Gebildete es lesen kann, und niemand wird es aus der
Hand legen, ohne dem Verfasser für die reichste Belehrung und Anregung dank¬
bar zu sein. Er zeigt sich hier von einer Seite, die in seinen rein philologi¬
schen Arbeiten nicht hervortreten konnte. Ein eindringendes und seines Ver¬
ständniß des hellenischen Geistes, ein ebenso tiefes als zartes Gefühl für Poesie
tritt dein Leser hier überall entgegen und hält ihn unwiderstehlich fest.

Nur bei einigen dieser Aufsätze, besonders bei denen über die Darstellung
der Helena in der griechischen Poesie, und über die griechische Vorstellung von dem
Neide der Götter, hat der Verfasser dem Leser vergönnt, die Untersuchung zu ver¬
folgen, aus der er seine Anschauungen gewonnen hat; bei den übrigen hat er
verschmäht die Fülle der Beweise mitzutheilen, auf denen die Resultate beruhn.
Damit ist zwar für das Interesse des größern Publicums genug geschehn; aber
im Interesse der Philologen ist es zu bedauern, daß der Verfasser ihnen
nicht gestattet hat, ihn auf den langen, verschlungenen und für jeden andern
leicht zu verfehlenden Wegen zu begleiten, auf denen er zu seinen Zielen ge¬
langt ist; und er neckt sie gewissermaßen, wenn er öfter ungefähr andeutet, wo
er seine Schätze gehoben hat, ohne die Stelle genau zu bezeichnen. Das
freilich würde der Sachkenner leicht sehn, auch wenn der Name des Verfassers
nicht auf dem Titel stände, daß die hier mitgetheilten Aufklärungen nicht ohne
die umfassendste und eindringendste Durchforschung des ganzen Alterthums ge¬
wonnen werden konnten: während Halbwisser, besonders wenn sie hier und
da auf etwas Bekanntes stoßen, vieles so natürlich und einfach finden werden,
daß sie sich möglicherweise einbilden könnten, sie hätten es ebensogut gewußt.

Der Verfasser hat seine Betrachtungen über die Sagenbildung in der
griechischen Literatur zunächst an Gestalten geknüpft, die durch bekannte deutsche


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 16, 1857, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341586_103666/15>, abgerufen am 02.05.2024.