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Die Grenzboten. Jg. 16, 1857, II. Semester. III. Band.

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Die Ereignisse in Ostindien
i.

Wer unbefangen die Geschichte Ostindiens in den letzten Jahrzehnten ver¬
folgt und daneben die Fäden des Slusstandö halt, so weil sie bis jetzt sichtbar
hervortreten, der wird sich schwerlich der Ueberzeugung verschließen können,
daß der Aufstand eine Erhebung der früher herrschenden Classe"
ist.. Darauf weisen schon dessen Hauptbestandtheile hin, die Muhammedaner
und die Kaste der Braminen. Ein muhaunnedanischer Fürst war eS, der einst
als unabhängiger Fürst Ostindien von Delhi aus beherrschte, und dessen Nach¬
folger jetzt nur noch als der Schatten der einstigen Große fortlebten, und
Muhammedaner bekleideten damals die wichtigsten und einträglichsten Posten.
Daß Muhammedaner für das große Verbrechen der Engländer, daS Schweine-
und Ochsenfett in den Sipoypatronen, nicht sehr tief fühlten, versteht sich von
selbst; mehr aber noch, sie hegen für indische Gebräuche und Religionsansichten
dieselbe gründliche Verachtung, wodurch die eifrigen Bekenner des Islams in
allen Orten andern Religionen gegenüber sich auszeichnen. Sie verfolgen
daher ganz gewiß andere Zwecke als die Erhaltung der reinen Braminenkaste,
nämlich die der Herrschaft, wozu sie sich kraft ihrer größern Energie besser eig¬
ne", als die zahmere" Hindus. We"n aber diese, obgleich an Zahl der Be¬
völkerung die Muhammedaner weit überragend, in ihrer vornehmsten Kaste den
letztern freiwillig die Herrschaft überlassen, so liegt das an den Ursachen, wes¬
halb diese sich so eifrig beim Aufstand betheiligt. Das Gefühl und die Ge¬
wohnheiten dieser Kaste sind priesterlicher Art, und wenn auch die Engländer
nicht entfernt daran gedacht haben, das Christenthum gewaltsam in Ostindien
einzuführen, oder auch nnr das Kastenwesen in irgend welcher Art zu durch¬
breche", so hat doch ihr moralischer und geistiger Einfluß nicht minder wie
die Ausübung ihrer Gewalt manche der altgewohnten Sitten und noch mehr
der damit verbundenen Einkünfte zu beschädigen angefangen, und war na¬
mentlich in den letzten Jahren dieser Zersetzungsproceß des alten Hinduthumö
sichtbar vorgeschritten.

Das ist nun die breite Grundlage, auf welcher sich Muhammedaner und
Hindubraminen zur Erhebung gege" die Engländer verbündeten; es galt ihnen
die Wiedereroberuiig der alten verlorenen Herrlichkeit. Man wird daraus
auch erkennen, wie viel Wahres an dem in englischen Blättern geführten
Streite ist, ob nämlich der Aufstand ein nationaler oder blos ein militärischer
sei. Er ist kein nationaler, insofern, so weit wir wissen, bis jetzt nur die
höhern Kasten an ihm Antheil genommen habe", an die sich bei der Gelegen¬
heit natürlich alles, was Gesindel heißt und Mord und Plünderung will,
""geschlossen hat; dagegen hat der eigentliche Bauer, also die Masse der Be-


Die Ereignisse in Ostindien
i.

Wer unbefangen die Geschichte Ostindiens in den letzten Jahrzehnten ver¬
folgt und daneben die Fäden des Slusstandö halt, so weil sie bis jetzt sichtbar
hervortreten, der wird sich schwerlich der Ueberzeugung verschließen können,
daß der Aufstand eine Erhebung der früher herrschenden Classe»
ist.. Darauf weisen schon dessen Hauptbestandtheile hin, die Muhammedaner
und die Kaste der Braminen. Ein muhaunnedanischer Fürst war eS, der einst
als unabhängiger Fürst Ostindien von Delhi aus beherrschte, und dessen Nach¬
folger jetzt nur noch als der Schatten der einstigen Große fortlebten, und
Muhammedaner bekleideten damals die wichtigsten und einträglichsten Posten.
Daß Muhammedaner für das große Verbrechen der Engländer, daS Schweine-
und Ochsenfett in den Sipoypatronen, nicht sehr tief fühlten, versteht sich von
selbst; mehr aber noch, sie hegen für indische Gebräuche und Religionsansichten
dieselbe gründliche Verachtung, wodurch die eifrigen Bekenner des Islams in
allen Orten andern Religionen gegenüber sich auszeichnen. Sie verfolgen
daher ganz gewiß andere Zwecke als die Erhaltung der reinen Braminenkaste,
nämlich die der Herrschaft, wozu sie sich kraft ihrer größern Energie besser eig¬
ne», als die zahmere» Hindus. We»n aber diese, obgleich an Zahl der Be¬
völkerung die Muhammedaner weit überragend, in ihrer vornehmsten Kaste den
letztern freiwillig die Herrschaft überlassen, so liegt das an den Ursachen, wes¬
halb diese sich so eifrig beim Aufstand betheiligt. Das Gefühl und die Ge¬
wohnheiten dieser Kaste sind priesterlicher Art, und wenn auch die Engländer
nicht entfernt daran gedacht haben, das Christenthum gewaltsam in Ostindien
einzuführen, oder auch nnr das Kastenwesen in irgend welcher Art zu durch¬
breche», so hat doch ihr moralischer und geistiger Einfluß nicht minder wie
die Ausübung ihrer Gewalt manche der altgewohnten Sitten und noch mehr
der damit verbundenen Einkünfte zu beschädigen angefangen, und war na¬
mentlich in den letzten Jahren dieser Zersetzungsproceß des alten Hinduthumö
sichtbar vorgeschritten.

Das ist nun die breite Grundlage, auf welcher sich Muhammedaner und
Hindubraminen zur Erhebung gege» die Engländer verbündeten; es galt ihnen
die Wiedereroberuiig der alten verlorenen Herrlichkeit. Man wird daraus
auch erkennen, wie viel Wahres an dem in englischen Blättern geführten
Streite ist, ob nämlich der Aufstand ein nationaler oder blos ein militärischer
sei. Er ist kein nationaler, insofern, so weit wir wissen, bis jetzt nur die
höhern Kasten an ihm Antheil genommen habe», an die sich bei der Gelegen¬
heit natürlich alles, was Gesindel heißt und Mord und Plünderung will,
"»geschlossen hat; dagegen hat der eigentliche Bauer, also die Masse der Be-


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[0333] Die Ereignisse in Ostindien i. Wer unbefangen die Geschichte Ostindiens in den letzten Jahrzehnten ver¬ folgt und daneben die Fäden des Slusstandö halt, so weil sie bis jetzt sichtbar hervortreten, der wird sich schwerlich der Ueberzeugung verschließen können, daß der Aufstand eine Erhebung der früher herrschenden Classe» ist.. Darauf weisen schon dessen Hauptbestandtheile hin, die Muhammedaner und die Kaste der Braminen. Ein muhaunnedanischer Fürst war eS, der einst als unabhängiger Fürst Ostindien von Delhi aus beherrschte, und dessen Nach¬ folger jetzt nur noch als der Schatten der einstigen Große fortlebten, und Muhammedaner bekleideten damals die wichtigsten und einträglichsten Posten. Daß Muhammedaner für das große Verbrechen der Engländer, daS Schweine- und Ochsenfett in den Sipoypatronen, nicht sehr tief fühlten, versteht sich von selbst; mehr aber noch, sie hegen für indische Gebräuche und Religionsansichten dieselbe gründliche Verachtung, wodurch die eifrigen Bekenner des Islams in allen Orten andern Religionen gegenüber sich auszeichnen. Sie verfolgen daher ganz gewiß andere Zwecke als die Erhaltung der reinen Braminenkaste, nämlich die der Herrschaft, wozu sie sich kraft ihrer größern Energie besser eig¬ ne», als die zahmere» Hindus. We»n aber diese, obgleich an Zahl der Be¬ völkerung die Muhammedaner weit überragend, in ihrer vornehmsten Kaste den letztern freiwillig die Herrschaft überlassen, so liegt das an den Ursachen, wes¬ halb diese sich so eifrig beim Aufstand betheiligt. Das Gefühl und die Ge¬ wohnheiten dieser Kaste sind priesterlicher Art, und wenn auch die Engländer nicht entfernt daran gedacht haben, das Christenthum gewaltsam in Ostindien einzuführen, oder auch nnr das Kastenwesen in irgend welcher Art zu durch¬ breche», so hat doch ihr moralischer und geistiger Einfluß nicht minder wie die Ausübung ihrer Gewalt manche der altgewohnten Sitten und noch mehr der damit verbundenen Einkünfte zu beschädigen angefangen, und war na¬ mentlich in den letzten Jahren dieser Zersetzungsproceß des alten Hinduthumö sichtbar vorgeschritten. Das ist nun die breite Grundlage, auf welcher sich Muhammedaner und Hindubraminen zur Erhebung gege» die Engländer verbündeten; es galt ihnen die Wiedereroberuiig der alten verlorenen Herrlichkeit. Man wird daraus auch erkennen, wie viel Wahres an dem in englischen Blättern geführten Streite ist, ob nämlich der Aufstand ein nationaler oder blos ein militärischer sei. Er ist kein nationaler, insofern, so weit wir wissen, bis jetzt nur die höhern Kasten an ihm Antheil genommen habe», an die sich bei der Gelegen¬ heit natürlich alles, was Gesindel heißt und Mord und Plünderung will, "»geschlossen hat; dagegen hat der eigentliche Bauer, also die Masse der Be-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 16, 1857, II. Semester. III. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341586_104200/333>, abgerufen am 04.05.2024.